BLAUE GEDICHTE. TANKA
Tony Böhle
Frank Dietrich: Blaue Gedichte. Tanka. Berlin: Rotkiefer Verlag 2020. 116 Seiten, 22,00 EUR. ISBN-13: 978-3949029318.
Warum lesen und schreiben wir heute noch Tanka? Eine Frage, die man sich stellen mag, nach einer über 1.300-jährigen Geschichte. Als ich von einigen Jahren das erste Mal in Übersetzungen mit dieser Gedichtform in Berührung kam, war es etwas, das so ganz anders war als das, was ich sonst von Gedichten kannte, und das mich deshalb in seinen Bann zog: Kurz, prägnant, aus dem Leben gegriffen, lyrisch, doch immer unmittelbar und unprätentiös… die komprimierteste Form des Menschseins mit allen seinen Erscheinungsformen in nur einigen knappen Worten.
Über einige der Dichter wissen wir nichts, außer dem, was die uns in ihren Tanka hinterlassen haben – wenn wir ihnen dabei trauen dürfen: Der Verlust eines nahestehenden Menschen, eine Geheime Liebe, das Wahrnehmen der Natur, Krankheit, Rückschläge in der Karriere, alltägliche Szenen aus dem häuslichen Umfeld… Nichts Anderes sind auch Frank Dietrichs Tanka. Mit „blauen“ Farben zeichnen sie das Dasein in einer Großstadtwelt nach, zu dessen ständigen Begleitern Anonymität, Einsamkeit, Zurückweisungen gehören, ebenso wie die Freude an kleinen Dingen des Alltags und das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit. Warum erscheint das so berührend? Es könnte unser eigenes Leben sein!
ohne Job, ohne Frauund ohne Freundewerden meine Tagezu Krähen – und ichzur Vogelscheuche
zwei Gleiseverlieren sich im Blaudes Horizontsals träfen sie sichim Unendlichen
die Junge Nachbarinbringt den Müll rauswie trostloswäre der Hinterhofohne sie
das Licht ferner Sternedie schon langeerloschen sinddie Vergangenheitholt mich ein