FLANDRINA VON SALIS – EINE PIONIERIN DES DEUTSCHSPRACHIGEN HAIKU – UND IHRE TANKA
Rüdiger Jung
Noch ehe Imma von Bodmershofs erster Haikuband erschien, hatte Flandrina von Salis (1923 – 2017) Ihre "Mohnblüten. Abendländische Haiku" 1955 bei den Oltner Bücherfreunden herausgebracht. Professor Erwin Jahr zollte beiden Autorinnen gleichermaßen Anerkennung. war Ihnen doch gelungen, was er für schlicht unmöglich hielt: eine gelungene Adaption der Haikudichtung im deutschsprachigen Raum.
Flandrina von Salis hat – teilweise in großen zeitlichen Abständen – immer wieder Bücher publiziert, die alleine schon durch ihre buchkünstlerische, bibliophile Qualität Furore machten. Im Werk manches Haiku-Schaffenden mögen Tanka als bloßes Nebenprodukt erscheinen. Für Flandrina von Salis gilt das keinesfalls. Das Gros ihrer Tanka veröffentlichte sie in den Bänden "Wahrnehmungen in Haiku- und Tanka-Form" Zollikon Zürich: Kranich-Verlag 1993 (zwei Zyklen zu je 14 Texten) und "Im Sog des Lichtes. Haiku. Tanka" (derselbe Ort, derselbe Verlag, 2010) - dort sind insgesamt 13 Tanka in den fortlaufenden Textfluss der Haiku integriert.
Ich möchte aus den (unpaginierten) "Wahrnehmungen" zwei Texte zitieren, die mich besonders faszinieren. Zunächst:
Der volle Mond istIn jedem WassertropfenIch mag zuschlagenNoch so oft, jedes TröpfchenTrägt erneut den Mond in sich.
Ein verblüffendes Gedicht – von geradezu mystischer Qualität. Besonders gefällt mir eine Grundehrlichkeit des lyrischen Ich: es ordnet sich der menschlichen Gattung ein, die im Blick auf die Natur Tragfähiges oft erst durch den vergeblichen Versuch der Zerstörung ausmacht.
Eine zweite "Wahrnehmung" der Autorin, die ich aufgreifen möchte, geht in eine ganz andere Richtung:
Leichter Herbstnebel –Stare beklagen lautstarkDass zu den TraubenIhnen der Zugang vergälltDurch Schüsse und Falkenruf.
An diesem Tanka besticht der hohe Grad an Empathie für das Mitgeschöpf. Der Text hat eine franziskanische Note – er erinnert an Albert Schweitzer und sein berühmtes Postulat der "Ehrfurcht vor dem Leben". Aber auch an den berühmten Haiku-Dichter Issa Kobayashi, der nicht nur ein Augenmerk für die Geschöpfe besaß, die meist übersehen werden, sondern – mehr noch – als ihr Anwalt in Erscheinung trat.
Im Todesjahr von Flandrina von Salis – 2017 – erschien als Privatdruck "Wüstensand. Gedichte und lyrische Prosa". In diesem Band, der gleichsam zum literarischen Vermächtnis wurde, begegnen drei Tanka, von denen ich zwei näher betrachten möchte.
Ein Dreiklang ist esDer den Sturm im WasserglasIm Nu besänftigtDes Meisters und des LiebstenStimme und der Rose Duft (S. 44)
Zunächst einmal nehmen mich diese Zeilen durch ihren Klang, ihre Musikalität für sich ein. Nichts Gedrechseltes, eher Schwerelosigkeit. Und dann jene Verblüffung, in der Bertolt Brecht den "Widerhaken" eines jeden guten Gedichtes erkannte. "Des Meisters und des Liebsten / Stimme" treten in eine Konkurrenz, die keine ist – und das nicht nur des begütigenden Duftes der Rose wegen. Der Meister (der keinerlei Spezifizierung erfährt, aber an Ausdrucksformen des Zen gemahnt) und der Liebste berühren das Ich in gleicher Intensität, aber vollkommen unterschiedlichen Bereichen und Ebenen. Eben darum hier KEINE Konkurrenz; auch deren Annahme wäre und bliebe nicht mehr und nicht weniger als ein "Sturm im Wasserglas".
Zärtlich umspanntenMeine Hände dein Antlitz –Nun du ferne bist,Geliebter, schlag ich sie aufUnd lese Deine Züge (S. 54)
Im japanischen Ursprungsraum hat das Tanka eine lange und breite Tradition als Ausdrucksform erotischer Dichtung. Dieser Tradition schreibt sich die hochbetagte Dichterin in ihrer letzten Buchveröffentlichung aufs überzeugendste ein. "Zärtlich" benennt die Textur dieses kleinen poetischen Juwels: Die aller Liebe verstörendste und herausforderndste Erfahrung – nämlich jene der Ferne des geliebten Menschen – ist in diesem Sprechen und Empfinden buchstäblich aufgehoben. Die "Züge" des "Geliebten" auch dann noch "lesen" zu können, wenn er "ferne" ist - eine eindringliche und bezaubernde Umschreibung der größten und unverbrüchlichsten Zuneigung, die zwei Menschen einander gewähren können!