POSITIONSLICHTER (RAINER HESSE) – EINE REZENSION
Rüdiger Jung
Rainer Hesse : Positionslichter. Ausgewählte Gedichte.
ISBN 978-3-83l6-2355-6. 102 Seiten. Literareon im utzverlag, 2022.
Rainer Hesse, Autor eines faszinierenden, in seinem Kern auf dem Tanka beruhenden lyrischen Werkes, hat Saskia Schymanski gebeten, eine Auswahl daraus zu treffen. Sie hat der Bitte entsprochen. 43 Texte repräsentieren nun eine Fülle von Arbeiten, die seit etwa 1989 in eigenständigen Bänden oder aber verstreut in Anthologien erschienen sind. "Positionslichter" sind nicht einfach Standpunkte. Miteinander markieren sie einen Weg des Denkens und Fühlens, des Schreibens und Lebens. Am Anfang steht das Vertrauen, dass es einen Zauber der Worte gibt, der jenem der Dinge zu entsprechen vermag:
In aller Herrgottsfrüheund kühler Morgenstilleüber die Fluren,durch das Gebüsch gestreift.Altweibersommerfädenwie Nebelperlenschnüre. (S. 29)
Hinter dem Traum "Sterne aufzufangen" bleiben die Schneekristalle gerade deshalb nicht zurück, weil keine Hand sie zum Schmelzen bringt, sondern ein Zweig ihre Schönheit konserviert ("unberührt"):
Ich träumte,dir Sterne aufzufangen.Erwacht,fand ich auf diesem Zweigeunberührten Schnee. (S. 19)
Hesse gelingen Stimmungsbilder voller Wehmut:
Päonien erinnernmich an alte Zeiten,an Wärme und ein Glückmit unbeschwerten Kindern.Der Garten längst verwaist... (S. 17)
Mehr noch, wird ein kleiner Vogel zum Sinnbild eines existenziellen "ausgesetzt"-Seins in der Äquidistanz zu Himmel und Erde:
So weit zum Himmel –und ebenso zur Erde!Auf verdorrtem Ast,jedem Wetter ausgesetzt,ein verschrecktes Vögelchen. (S. 39)
Und – das ist das Wunder: Dieses "verschreckte Vögelchen" lebt! So wie der Autor – in einem Moment des Alleinseins, aber nicht der Einsamkeit, der hier gleichsam in einer Joyce'schen Epiphanie eingefangen ist:
Bei offener Türim Schein der kleinen Lampeüber den Büchern. –Der Duft nach Erdeund das Geräusch des Regenshalten mich wach. (S. 31)
Analog zur japanischen Poesie werden die Mitgeschöpfe zum Inbild des eigenen Daseins:
Sobald ein Maulwurfsich nach oben durchgewühlt,kommt hochwahrscheinlichein Rasenmäheroder voller Tatendrang –ein Spaten. (S. 73)
Beim Zitieren dieses Gedichtes habe ich mir den Titel bewusst bis zum Schluss aufgehoben: "Neid"!
Sollte es einem Germanisten einfallen, Rainer Hesses lyrisches Werk zu analysieren und dies an einem zentralen Motiv aufzuhängen, müssten dies Motiv die Krähen sein – so ambivalent und vielgestaltig begegnen sie im Werk dieses Autors, der ihnen überdies freundschaftlich verbunden ist.
Selbst in dem im Folgenden zitierten Albtraum sind sie keineswegs die dräuenden Totenvögel, eher schon die trauernden Gefährten:
Eine Krähenschar,sie legte kleine Steineab an einem Ort,auf einem frischen Hügel. –Schweißgebadet aufgewacht! (S. 43)
Weit eher taugen die Krähen zum Inbild und Sinnbild – des Autors und seiner Leser:
Lärmend ziehen Krähenin der Abenddämmerungüber brache Felder hin,fernen Nachtquartieren zu –bis ihr Ruf verstummt. (S. 47)
So haben sie in folgendem Haiku-Dreiklang Anteil an der Steigerung dessen, was uns bedroht und gefährdet:
Nur das Nebelhornund Krähen sind zu hörenin meiner Kammer.
Die Lüfte singen.Verstummt sind sie, die Krähen.Sturm drängt auf das Land.
Herr, erhöre uns!Die Angst tritt übers Ufer.Und das Wasser steigt. (S. 45)
Ganz deutlich klingt an: das "Verstummen" der Krähen ist verstörender, irritierender, beunruhigender als die Normalität ihres Krächzens. Folgerichtig möchte ich meinen kleinen Parcours mit den Krähen in Rainer Hesses Gedichten mit folgendem Tanka abschließen:
In das Schweigendes treibenden Schneesfällt kein Laut.Selbst die Krähenhalten sich zurück. (S. 51)
"Selbst die Krähen / halten sich zurück"? Das muss wirklich tiefster Winter sein.
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