MEIN SCHATTEN SEUFZT MIT DER STIMME DES MEERES – EINE REZENSION
Rüdiger Jung
Reiner Bonack: Mein Schatten seufzt mit der Stimme des Meeres. Kurzgedichte nach der japanischen Form des Tanka. Eine Auswahl aus 30 Jahren. Norderstedt : Books on Demand, 202l. ISBN 978-3-7543-327l-9. l32 Seiten
I
Man mag es Vorsicht oder Bescheidenheit nennen, wenn einer nach 30 Jahren immer noch (oder mehr denn je) von "Kurzgedichte(n) nach der japanischen Form des Tanka" spricht. Besser noch: Erkenntnis. Wir bewegen uns im Bereich westlicher Adaptationen. Sie gleichen nicht unmittelbar dem japanischen Vorbild, täten sie das, wären sie – mit Verlaub – als eigene literarische Hervorbringungen weitgehend uninteressant. Anders herum wird ein Schuh daraus: die Form wird nicht kopiert, sondern adaptiert. Umso spannender der Vergleich, umso verblüffender Parallelen, die sich – unkalkuliert! – einstellen. Die Fünfzeiligkeit bleibt – mit einer durchaus inhaltlich zu verstehenden Ausnahme – gewahrt; aber eine Silbenzählung, die an japanische Moren anschließt, bleibt aus. Auch ein "kurz-lang-kurz-lang-lang" wird hier nicht die Regel. Dennoch: es dürfte wenige deutschsprachige Dichtungen geben, die dem Tanka, dem Waka, dem Uta derart nahe kommen wie die hier besprochenen.
II
"KINDHEIT. DIE MAGIE (S.5-24) lautet das erste Kapitel. Die "Magie" liegt im Transzendieren der Zeit. Erinnerung ist etwas anderes als das, was einmal war. Tatsächlich vermitteln die Texte aber immer wieder so etwas wie einen direkten, ungetrübten, kristallinen Zugang zur Kindheit:
FLEISCHEREI SCHUMBEETüber der Ladentür, starr,der Kopf eines Schweins,die Augen sah ich im SchlafIch war ein schlechter Esser (S. 12)
DIE GUTEN SCHUHE, KINDsollen doch lange haltenIch lächle mich anim Spiegel der Pfütze,springe (S. 18)
III
"WARTEN AUF EINEN LAUT" (S. 25-42) - der Titel des zweiten Kapitels ist geradezu programmatisch: Sinne, aufs Äußerste angespannt. Weil nur die sinnliche Wahrnehmung sich wirklich mitteilt. Weil nur die äußerste Konkretion die Kraft hat, in Worte zu fassen, was Worte nicht sagen können:
SCHWERELOS RUHENdie Schatten der Kiefernam Rand der HeideIch hörewie keine Nadel fällt (S. 31)
SOMMERNACHTAuf der Wiese liegendunter den Sternen höre ichaus der Tiefe des Allsdie Mücken surren (S. 34)
IV
Die "TRÖSTUNG DES MEERES" (S. 43-60) hat Reiner Bonack immer wieder an der dänischen Küste erfahren. Maritime Idyllen sollte der Leser nicht erwarten. Eher eine Welt, die in intensiven – durchaus auch schmerzlichen! – Momenten einen Blick in die Tiefe gewährt, auf der sie beruht. Da muss das Ohr dem Auge Schützenhilfe leisten:
NEBELNichts löst sichDie Muschel am Ohr –ich sehedas Meer (S.45)
Es ist Teil dieser vom Tidenhub wie vom Wechsel der Jahreszeiten bestimmten Natur, dass sie sich zurücknimmt und dabei alles (auch den Menschen!) einbegreift:
DER UFERWALDnimmt die Boote zurück,der nasse Meerwindden Geruch der Netze.das Dorf – die Fischer (S. 53)
Wohnt dem Geborgenheit inne? Gewiss. Aber nicht minder Wehmut, Vergänglichkeit:
MITTAGDie Schatten vertrocknenDas Meer ist verstummtFernher trägt es Äpfel, OrangenUnd fernhin den Tod (S. 58)
Wahrhaft paradiesische Früchte - und im selben Atemzug Memento mori. "Media in vita": vom Kirchenlied bis zur Lyrik Friedrich Hebbels weiß Bonack sich in allerbester Gesellschaft. Und findet dem lebensbedrohlichen Hunger ein Bild so kraftvoll, so schonungslos, wie ich es noch nirgendwo las:
NACH WINTERN IM EISund fast nicht mehr erwartetkehrten sie heimZögernd nur zog sich der Todzurück aus den Augenhöhlen (S. 58)
V
"KOMM, HAUCHT DER ENGEL" (S. 61-74). In der klassischen japanischen Poesie ist Transzendenz nicht anders zu haben als über die Immanenz. Vielleicht ist es das, was Bonacks "Kurzgedichte nach der japanischen Form des Tanka" so echt, so authentisch, so stimmig macht. Wenn etwas über diese Welt hinausreicht, dann ereignet es sich in Begegnungen in dieser Welt. Begegnungen mit nahen, wichtigen Menschen, Begegnungen, die den Schmerz, die Enttäuschung, Versehrung nie ausschließen können:
BIS AN IHR ENDEging sie Umwege zur StadtEinmal, leise, der Satz:Über die Brücke fuhr damalsdein Vater davon (S. 64)
WIR TRENNTEN UNS,weiße Scheiben,an die eine Fliege stieß,wieder und wiederseitdem (S. 68)
Ein franziskanisches Moment tritt hinzu: Begegnungen mit anderen Mitgeschöpfen geraten nicht weniger nah und auf Augenhöhe wie jene mit Menschen:
ICH STREICHELE SIEmit meinen Blicken,spreche ihr Mut zu, Mutim November – der einzigennicht erschlagenen Fliege (S. 72)
Nichts mindert die Intensität dieser Zugewandtheit, nicht einmal die (nicht unbegründete) Vermutung, der, der die letzte Fliege streichelt, könne derselbe sein, der die vorletzte erschlagen hat. Charme weit mehr denn Resignation waltet da, wo zarte Romantik auf dem Boden der kreatürlichen Bedürfnisse geerdet erscheint:
ACH KATER, AUCH ICHseh voller Sehnsuchtden ziehenden Vögeln nachKomm,kriegst Futter (S. 74)
So unterschiedlich motiviert kann "Sehnsucht" sein, die doch ein-und-die-selbe Blickrichtung hat!
VI
"BILDER. DIE NACHRICHT" (S. 75-90): vom fünften Kapitel ließe sich sagen, dass es Grenzgänge vereint. Etwa von jenem Astronauten, der nicht mehr von irgendeinem Ort dieser Erde aus Ausschau nach dem Mond hält, sondern von einem des Mondes ("Meer der Stille") auf die Erde:
DER BLICK AUSdem Meer der Stilleüber schwarzem Abgrund,verloren wie eine Hoffnung,geht die Erde auf (S. 77)
Dem Abbruch der Kommunikation, den der Tod meint, ist von irdischer Seite nicht anders als irdisch zu begegnen – dies umso mehr, wenn es – Folge des Krieges – keinen Ort für die Trauer gibt:
ER LIEBTE ASTERN,sagt sie, schaut auf,ich weiß nichtob es Astern gibt, dort,wo er liegt (S. 80)
So aussichtslos wie aller Ehren wert – der Ritter von der Mancha in greifbarer Nähe – erweist sich der Versuch, der schwindenden, der verrinnenden Gegenwart die Vergangenheit (und sei sie noch so glücklich und erfüllt!) entgegenzuhalten:
ICH HATTE MEINE JAHRE,niemand kann sie mir nehmen,sagt er, verstummt,vergräbt sein Gesichtnach der Visite im Kissen (S. 83)
VII
"VOR DEINEN SCHUHEN KLEINE IGEL" (S. 91-102) sind Verse des Abschieds wie der bleibenden Zwiesprache mit Angelika Bonack (1954-2019), zu denen sich (S. 103) einer von ihr gesellt – beseelt von einem Ur- und Grundvertrauen in die Natur, das der eigenen Vergänglichkeit mutig Paroli bietet.
Die Last der Trauer, der Umbruch, die Erschütterung, die sie bedeutet – Wie ließe sie sich grundstürzender sagen als in den beiden Schlusszeilen folgenden Kurzgedichts:
ALLEIN, STAUB WÄCHSTauf Blättern, der Hautder ZimmerpflanzenLange schon altertdas Licht (S. 95)
Eine andere Art der Assimilation, der Angleichung (ein Wort, das auch für die Photosynthese gebraucht wird): Die Zimmerpflanzen werden menschlich, bekommen eine (verletzliche) "Haut“. Der Mensch wiederum bedarf des Lichtes nicht weniger als sie. Dass altert, was Licht braucht, was dem Licht ausgesetzt ist, ist nicht ungewöhnlich. Dass "das Licht" selbst hingegen "altert", bricht eine religiöse Grundsymbolik auf, die keineswegs nur dem Christentum innewohnt!
Die Erinnerung, so steht es oft über Traueranzeigen, ist das einzige Reich, aus dem wir nicht vertrieben werden können. So gesehen lebt ein Mensch, solange er nicht vergessen ist. Es tut weh, eine gemeinsame Erinnerung nicht mehr mit dem Iiebsten Menschen teilen zu können. Aber es liegt ein Trost darin, wirklicher, bleibender Trost, dass der geliebte Mensch im eigenen Erinnern aufgehoben ist und bleibt:
UNTER DEN KIEFERN,sie rauschten –oder war es das Meer,verging jener unvergängliche Tag mit dirNur ich erinnere ihn noch (S. 100)
"Unvergänglich" gilt immer noch – und ist Teil der alles überragenden Zeile!
UNTER DER STRASSENLAMPEwar Schnee auf deinem HaarZögerndberührte ermeine Finger (S. 101)
Wie viel Verletzlichkeit liegt in dieser Umkehr von Subjekt und Objekt: nicht die Finger berühren den Schnee, der Schnee berührt die Finger. Wie viel Zärtlichkeit!
Jeder Abschied streift das Unsagbare. Weshalb mir in folgendem Kurzgedicht – dem einzigen, das nicht auf fünf Zeilen kommt – die fehlende fünfte Zeile geradezu ein zwingender Teil der Aussage ist und ihrer poetischen Form:
STERBEN IST SCHWER,sagst du, Liebstewir schweigen – niemandkann sagen: Ich weiß (S. 102)
VIII
"ADAPTIONEN VON TANKA AUS DEM KOKIN WAKASHU" (S. 105-126): Das höfische Leben und Zeremoniell des alten Japan, in dem das Tanka so lange verwurzelt war, ist so verfeinert und nuanciert, dass wir solchen Texten selbst mit poetischem Gespür ohne einen riesigen Anmerkungsapparat kaum als Verstehende begegnen können. Es braucht gleichsam ein Vergrößerungsglas für das Auffassen dieser distinguierten Lyrik. Warum nicht auch eines Anflugs von surrealem Humor bei Reiner Bonack, der dabei durchaus auch seinen Gogol gelesen hat:
ACH KÖNIGIN, DEN DUFTder Kirschblüten soll ich dir bringenim Gedicht – ich bitt dich,geh selbst zu ihnen, nimmdie Nase mit (S. 122)
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