EIN BLAUER RISS: DIE NACHGELASSENEN TANKA DER FLANDRINA VON SALIS
Rüdiger Jung
Barbara Redmann aus Malans, der Expertin für das literarische Schaffen der Flandrina von Salis, danke ich von Herzen für die Möglichkeit, unveröffentlichte Tanka der Autorin einsehen zu dürfen. Da stehen Tagebuchnotizen neben Sentenzen und Statements, Gedichte, die ein Naturbild zeichnen und in Ansätzen deuten. Besonders stark indes finde ich die Texte, die ein Bild, eine Stimmung, eine Wahrnehmung, eine Impression der Leserin / dem Leser vor die Sinne stellen, um ihr / ihm selbst Zwiegespräch und Deutung zu überlassen.
Silbergesäumte WolkenEin FaltenwurfQuer über dem Himmel
Und in der FerneEin blauer Riss
"Silbergesäumte Wolken" deuten auf ein Licht, das nur im Abglanz zu haben ist und doch die ganze Welt erhellt. Der "Faltenwurf" mag an die christliche Ikonographie gemahnen, das Ganze eher an den Zen, der der Immanenz verhaftet ist. "Und in der Ferne / Ein blauer Riss" lässt den späten Leonard Cohen assoziieren: "There is a crack in everything, / that's where the light gets in..."
Besonders schätze ich an Flandrina von Salis (eine der Pionierinnen einer ernstzunehmenden deutschsprachigen Adaption der Haiku- und Tanka-Dichtung) ihr franziskanisches Empfinden, ihre "Ehrfurcht vor dem Leben" (Albert Schweitzer), ihren Dialog mit dem Mitgeschöpf (oft in seiner Kleinheit und Verletzlichkeit), der den Vergleich mit Issa Kobayashi nicht scheuen muss:
Peitschende SchüsseDrohende Falkenrufe –Naschhafte Vögel,
Euch ist kein Glück beschieden,Zu tief hängen die Trauben
Winzig, so zierlichEiner goldnen Brosche gleichBlindschleichenbaby
Sonnt sich kühn, dem Nest entwischt,Keiner Gefahr sich bewusst
Das blinde KätzchenFindet sein FutternäpfchenNicht mehr – was soll ich
Denn klagen, da mein HungerJa nur Buchstaben betrifft
Der Elch weiß Bescheid –Auf dem Weg zum stillen OrtLiegt morgens Losung –
Tage im nahen Wald versteckt –Nachts möcht' ich ihn nicht treffen
Die franziskanische Ansprache an die Mitkreatur kulminiert letztlich in der lateinischen Formel "Carpe diem" – Pflücke den Tag! Nutze die Gunst der Stunde:
Wann wirst du endlichAus der Puppe dich befrei'n– Fremder Admiral – ?
Schon ruft und drängt der Sommer,Lass ihn nicht vorübergehn!
Als eines der Lebensthemen von Flandrina von Salis darf der Garten gelten; in einem Tanka dient er ihr zu einem feinsinnigen Psychogramm der eigenen Seele:
Ich habe um michEinen Garten angelegtVoller Biütenduft,
Doch niemand gelangt zu mirOhne ihn zu zertrampeln.
Die Alternative ist gesetzt: Rückzug in das eigene sichere Areal – nur zu haben um den Preis der Einsamkeit. Oder aber das Glück der Gemeinschaft und des Austauschs – nur zu haben um den Preis (und die Preisgabe!) der eigenen Verletzlichkeit. Es ist die Vita activa der "Gärtnersleute", die den Garten erhält – und doch zugleich mit der Vita contemplativa des lyrischen Ichs in einen ganz leise und verhalten angedeuteten Konflikt tritt:
Die GärtnersleuteIn Ferien – Friedlich alleinDer Garten und ich,
Es plätschert der Springbrunnen,Leis giert die Wetterfahne
Die Assoziation von Hölderlins "Hälfte des Lebens" (“im Winde klirren die Fahnen") macht das atmosphärische Gewebe des Tanka nur um so reichhaltiger. Westliche und japanische (Steingarten) Gartenkonzepte vermag die Dichterin in geeinter Verschiedenheit nebeneinander zu stellen und gleichermaßen zu würdigen:
Dichter BuchenwaldLichtgrüne Geborgenheit – HierFern im Osten
Des Kieselmeeres RuheUnd der bergende Felsen
Allen Gärten mag etwas von der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies eigen sein, in dem nie der Tod, sondern immer das Leben das letzte Wort behält:
Wie eine SchaleDes gestürzten BaumriesenMächtig Wurzelwerk
Dem nun Tannchen dicht an dichtDem Himmel zu entquellen
Wer den längeren Atem hat, menschliches oder göttliches Schöpfungswerk, Kultur oder Natur – diese Frage scheint bei Flandrina von Salis längst im Sinne letzterer entschieden:
Der RiesenkäferKroch durch des Tempels HalleZu beiden Seiten
Stürzten die Säulen ins GrasZeugen glorreicher Zeiten
(Olympia)
Mehrfach begegnen Tanka mit einer starken Dynamik, nicht selten jener, mit der der Frühling den Winter hinter sich lässt:
Sprühender denn jeVon den Eiszapfen befreitTinguelybrunnen
Im WassertropfenspielSich glitzernd die Sonne verfängt
FiligranleichteEissterne haucht der FrostAn Butzenscheiben
Jeder noch so blasse TagBringt uns dem Frühling näher
Die Eisblumen müssen weichen, auf dass das reale Blühen seine Blütenköpfe erheben kann. – Apropos Dynamik: hier vermag Flandrina von Salis mit dem Philosophen (und hervorragenden Lyriker!) Friedrich Nietzsche gleichzuziehen:
Rascher, ihr Füße,Den Berg hinan, noch und nochMuss hinter dem Grat
Ich den Mond sehen, wie erAufgeht, stets erneut aufgeht
Faszinierend der Hinweis auf den Horizont, der fliehend sich weitet. Und der Nachhall einer einfachen Wortwiederholung, die sehr wohl an die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen gemahnt!
Das Gegensatzpaar von Stille und Bewegung vermag auch bei Flandrina von Salis in jene Dialektik zu treten, die das berühmte Frosch-Haiku Matsuo Bashos (Furu-ike-ya) in besonderer Weise auszeichnet:
In tiefer HöhleTrübt nicht der leiseste HauchDes Sees Spiegel
Schwindelnden Abgrund siehst du,Doch flach fällt der Stein hinein
Der Text hat noch ein Pendant, in dem eine (sehr spannungsvolle) Stille den Sieg davongetragen hat:
SchwindelerregendDer steile FelsenabgrundVon keinem Hauch getrübt
Spiegelt sich im seichten SeeDie Höhlenwölbung wider
Schließen möchte ich meinen Blick auf die unveröffentlichten Tanka von Flandrina von Salis mit einem Text, der mich menschlich sehr innig berührt:
Es gab eine ZeitDa las ich der Worte WertIn deinen Augen
– Nun müssen sie fern von dirFür sich allein bestehen.
Ein Tanka, das Abschied atmet – von einem geliebten Menschen, der überdies als erste kritische Stimme für das eigene literarische Schaffen von besonderem Rang und wohl unersetzbar war. Die Trauer um den Verlust hat einen Widerpart im Bleiben der Worte, die nun auch ihn und sein hilfreiches Wesen bewahren. Die Worte wiederum müssen gleichsam erwachsen werden, auf dass ihnen das nun ohne den einstigen Schutzpatron gelingen möge: "Für sich allein bestehen."
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