RAINER HESSE: TANZ AUF DEM VULKAN
Rüdiger Jung
Rainer Hesse: Tanz auf dem Vulkan. Gedichte aus dem Gesamtwerk. Nordstrand/Nordsee: M.-G.-Schmitz-Verlag, 2024. ISBN 978-3-944854-80-9. 134 Seiten. Preis: 11,80 Euro.
1992 erschien in Göttingen in der Halbe-Bogen-Reihe "Kaze iro - wie der Wind weht" - der erste Gedichtband von Rainer Hesse. Ende 2024 ist mit "Tanz auf dem Vulkan" sein 21. Lyrikbuch herausgekommen. Prägend für alle Bände aus über 30 Jahren ist das Tanka. Der Untertitel des neuen Werkes deutet auf eine repräsentative Gesamtschau. Was Rainer Hesse im Laufe von über drei Jahrzehnten gelungen ist: eine eigene, unverwechselbare Stimme im von Fernost inspirierten deutschen Kurzgedicht zu entwickeln.
Der Wind weht, wo er will. Da liegt es nahe, dass Rainer Hesse ihn zum Kronzeugen durchaus ambivalenter Lebenserfahrungen macht:
Heute spielt der Wind
auf seiner Frühlingsharfe,obschon er gesternaltes Laub durch Gassen trieb,in jeder Ecke kehrte. (S.42)
Die Unberechenbarkeit ist Natur, schließt von daher ein geradezu sinnfälliges, freundschaftliches Verhältnis nicht aus:
MistralGleich vor dem Bahnhofempfängt mich ein alter Freund,zaust an mir herum.Kalt fährt er mir unters Hemdund wärmt sich ein bisschen auf. (S. 77)
Witterung, Atmosphäre spielen immer wieder im neuen Buch eine Rolle. Dabei ist Hesse alles andere als ein bloßer Idylliker und Schönwetter-Poet:
Sollte es dereinstauf meiner Beerdigungwunschgemäß regnen,hätte ein weiterer Freundes geschafft, dabei zu sein. (S. 116)
Ein Liebesgedicht, changierend zwischen Traum und Erwachen, mündet in winterliches Schweigen; eine unscheinbare Silbe ("dir") fokussiert die fünf Zeilen:
Ich träumte,dir Sterne aufzufangen.Erwacht,auf Dach und Kieferunberührter Schnee. (S. 39)
Rainer Hesses Dichtung trägt franziskanische Züge, man findet immer wieder den Bezug zu Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben". Zugleich ist und bleibt der Autor ein kritischer Geist, der auf Noahs Arche der Taube weniger traut als dem schwarz gefiederten Gefährten:
Das Land der Sehnsucht,der Liebe und Verheissung:Die Raben kehrenallemal an Bord zurück,die Kimm narrt jede Hoffnung. (S. 25)
Tatsächlich haben Rabenvögel und allemal die vertrautesten unter ihnen, die Krähen, bei Hesse einen Freundesstatus, wie ihn sonst wohl nur Camelus dromedarius (S. 86, 88) für sich behaupten kann. Dagegen spricht auch nicht, dass die Krähen an einer Stelle Dramatis personae eines erschütternden Albtraums werden:
Eine Krähenschar,sie legte kleine Steineab an einem Ort,auf einem frischen Hügel.Schweißgebadet aufgewacht! (S. 37)
Endlichkeit, Vergänglichkeit grundiert unser Leben und auch Rainer Hesses Gedichte. Unbeschadet dessen prägen Gelassenheit und Weisheit jene Gedichte Rainer Hesses, in denen das Alter zum Thema wird:
Vor Stürmen geschützt,seitab der harten Brandungim Hafen segeln(in portu navigare)und auf die Enkel achten. (S. 47)
Das vorab übersetzte lateinische Zitat in Vers 4 erachte ich als eine großartige, gelungene klangliche und stilistische Finesse! Man wird den Autor nicht unbedingt zum modernen Anakreontiker erklären. Wenn er indes dem Wein seine lyrische Aufwartung macht, gerät das sehr wohl süffig im Abgang:
Im verlassenen Haustief im Süden teile ichmeine Zeit mit ihm.Kristallrubin und trockender Freund aus dem Lubéron. (S. 53)
Rüdiger Jung
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