Editorial - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

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EDITORIAL

Liebe Freundinnen und Freunde des Tanka-Magazins Einunddreißig,

die Laubbäume haben allmählich ihre bunten Gewänder abgelegt und zeigen sich von ihrer losgelösten Seite. Ist doch auch für den Menschen der Spätherbst die Zeit des Loslassens, des Rückzugs angesichts des schwindenden Tageslichts. Im Anblick der beinahe kahlen Bäume kann einen das Gefühl beschleichen, dass auch die eigene Haut allmählich dünner wird. Das Empfinden von Frösteln und das Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit treten in den Vordergrund und die trockene Heizungsluft sorgt zusätzlich dafür, dass man krankheitsanfälliger wird.
Die allzu kurze Zeitspanne des "Altweibersommers" sowie des "Indian Summer" in diesem Jahr können darüber hinaus jetzt im November für eine melancholische Stimmung sorgen. Das zeitweilig regnerische Wetter verleitet mich jedenfalls nicht zu ausgedehnten Spaziergängen. Mit dem Fahrrad unterwegs zu sein bedeutet hingegen, sich zusammenzureißen und das kühle, windige und feuchte Wetter auszuhalten, was ich nicht mehr gewöhnt war. Aber auch die Freude ans Nach-Hause-Kommen gehört zu dieser Jahreszeit. Sicher ist eine angenehme Lektüre gerade im Spätherbst eine besonders wohltuende Tätigkeit. Auch die eigenen früheren Zeilen über diese Wochen des Übergangs wirken belebend.

Doch ist für viele Menschen der November auch der Monat, in dem man sich seiner verstorbenen Eltern und Großeltern erinnert und dem heimischen Friedhof einen Besuch abstattet, gleichgültig, ob man sich an Halloween beteiligt oder nicht. In den Dämmerstunden leuchten die Grablichter und zeigen den Lebenden den Weg. An Allerheiligen lege ich in meinem Wohnzimmer dreißig Gegenstände, die ich einst von meinen Ahnen geschenkt bekommen habe, auf einem Tisch zu einem Ensemble der vielseitigen Erinnerungen zusammen. An ihre Stimmen, ihre Sprüche und Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihre Wohnungen und deren Geräusche und Gerüche. Diese Dinge sind ein kleiner handgewebter Teppich, eine gestickte Tischdecke, dünn gewordene Handtücher, eine Wärmflasche, eine bunte Schüssel, silberne Untersetzer, Besteckteile, Überfang-Weingläser, Vasen, Kakteen, ein Parfümflakon, Manschettenknöpfe, Schmuck und bemalte Döschen, eine kleine Puppe mit gestricktem Pullover und genähtem Kleidchen, ein Messingkreuz und eine hölzerne Marienfigur, Bücher und Fotos. Darüber hinaus koche ich ihre damaligen Lieblingsspeisen und spreche mit meinem Mann über die Verwandten, die uns beiden vorausgegangen sind. An jedem Tag im November verlässt ein Gegenstand seinen Platz wieder und kehrt an seine vorherige Stelle zurück. Bis Anfang Dezember der Tisch wieder leer ist und Neuem Platz machen kann. Es ist eine Zeremonie des Begreifens, eine Übereinstimmung mit den uns nahestehenden Menschen und letztendlich das Annehmen des eigenen zeitlichen Rahmens. Bedeutungsvolle Eckpfeiler, die dem Leben seine Großartigkeit verleihen und in der Literatur, in Prosa und Lyrik, in Balladen und in Haiku und Tanka zum Ausdruck kommen.

Ihnen und euch allen einen gesunden und frohen Spätherbst und Winter!

Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen
Birgit Heid
Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
09126 Chemnitz
Deutschland
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Birgit Heid
Mail: einsendung@einunddreissig.net
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