PLAYLIST. TANKA
Rüdiger Jung
Tony Böhle: Playlist. Tanka von Tony Böhle mit Illustrationen von Valeria Barouch. Frankfurt a. M.: edition federleicht 2020. 79 Seiten, 18,00 EUR. ISBN-13: 978-3-946112-00-0.
Eine Rezension
5-7-5-7-7 — die Silbenstruktur ist einprägsam. Nur, dass unsere Silben nicht dasselbe sind wie die Moren der japanischen Sprache. Nur, dass die klassische Zäsur nach dem dritten Segment — immer noch gern genutzt — keineswegs zwingend ist. Selbst eine Anzahl von fünf Zeilen ist kein Gesetz der Meder und Perser mehr. So viel zu einer rein „formalen“ Definition des Tanka.
Nicht die einzige Schwierigkeit der Adaption der Tanka-Poesie in deutscher Sprache. In seinem präzisen, informativen Nachwort (S. 65 bis 76) verweist Christian Skrey darauf, dass vor allem klassische Tanka ins Deutsche übersetzt wurden, was eine gewisse Einseitigkeit der Rezeption bedingte. Das moderne Tanka — forciert nicht zuletzt durch die vom Westen erzwungene Öffnung Japans im 19. Jahrhundert — blieb dabei weitgehend außen vor.
Liebe, Natur, Religion — die klassische Themenpalette hat Wandlungen erfahren. Die Liebe ist — platt gesagt — komplizierter geworden, ambivalenter. Die Natur ist nicht mehr so sehr die unberührte als vielmehr die vom Menschen gestaltete. Der Religion schließlich hat die Wissenschaft ihren Rang streitig gemacht. (Ersetzen können hat sie sie m.E. nicht.)
Tony Böhle steht in besonderer Weise für das gegenwärtige deutschsprachige Tanka. Besonders als Herausgeber des Magazins „Einunddreißig“. Aber auch als ein deutscher Autor, dem vergönnt war, für eines seiner modernen Tanka bei einem Wettbewerb in Japan prämiert zu werden.
Bertolt Brecht hat einmal das gute Gedicht über seinen „Widerhaken“ definiert. Einen solchen sehe ich da, wo der allseits grassierenden Selbstoptimierung mutig Paroli geboten wird:
Cervantes’ Don Quijoteauf dem StapelMängelexemplare –ich kaufe esaus purer Solidarität (S. 47)
Auch das Fixiert-Sein aufs Äußere erfährt den gebotenen Widerspruch:
Kritisch beäugtals sei sie ein wenigerrespektables Wesen –eine Frau, Größe 50,im Victoria's Secret (S. 52)
Traditionen von zweifelhaftem Wert begegnet Böhle erfrischend kritisch:
einen Fehlereingestehen undwie man sich rasiert –nur zwei der Dinge,die Vater mich nicht lehrte (S. 39)
Eine politische Haltung kristallisiert sich durchaus im Gespräch den Generationen heraus:
angekommenin der neuen Wohnung:der Nierentisch,Großmutters Geschirr undjene Angst vor einem Krieg (S. 33)
Das „Wirtschaftswunder“ der 50er Jahre, konfrontiert mit dem neuen und wachsenden Drohpotential atomarer Bewaffnung — der Enkel findet sich in dieser Kombination von Wohlstand und Gefahr durchaus wieder. Und verwahrt sich gegen die Rezepte, die die Elterngeneration in ihrer Kindheit zu schlucken hatte:
bei Gefahrsich Ducken und Bedeckendoch will ich michnicht bedecken und auch nicht duckenwie meine Eltern einst (S. 34)
Jede Kindheit steht für einen neuen Anfang, eine neue Chance für die Menschheit. An ihrem utopischen Potential gilt es festzuhalten – auch als Erwachsener:
die Tüte m&m'svom Bahnhofsautomaten –ich halte sie festwie ein Versprechenkindlichen Glücks (S. 17)
Die Melancholie; die dem einhergeht; scheint unausweichlich. Aber vergessen wir nicht, dass der Melancholiker sich keiner Sache sicher sein kann — nicht einmal der Totalität des Misslingens:
Papierschiffchen,einst in die Welt geschicktvom Rand des Bachs…das ferne Meerhaben sie wohl nie erreicht (S. 44)
Unter den klassischen Themen der Tanka-Dichtung ist es die Liebe, der Tony Böhle in meinen Augen die faszinierendsten poetischen Facetten abzugewinnen vermag, mit einer sehr feinen, geschärften Sensibilität:
was dich bedrückt,weiß ich nicht, doch habeich ihn wohl bemerkt,den zweiten Würfel Zuckerin deiner Tasse Tee (S. 38)
Überraschtvom Regen öffne ichden Schirm,doch du greifst nach deinem …kalt ist dieser Abend (S. 61)
In seinem Vorwort zitiert Böhle den Prolog des Kokin Wakashu, der ersten „offiziellen“ Tanka-Sammlung (auf kaiserlichem Geheiß). Gerade im Blick auf die Liebe wird hier dem Tanka Außerordentliches zugetraut „es (...) schafft Gleichklang zwischen Mann und Frau“ (S. 8). Das stellt sich in der Moderne — gelinde gesagt — ein wenig schwieriger dar:
du hast deineZukunftspläne undich hab’ meine …so beginnt das SpielReise nach Jerusalem (S. 53)
Drastischer noch und bei aller Dramatik nicht ohne Augenzwinkern:
"Nein, ich möchtewirklich keine Kinder…"einen nachdem anderen sortierst dudie Shrimps aus dem Salat (S. 52)
Männer sind anders, Frauen auch. So nehmen die Schmetterlinge im Bauch eine sehr unterschiedliche und letztlich doch wieder ähnliche Entwicklung:
versuche ich esmit einem Vergleich,bist du diePuppe ohne Mund und ichein Falter ohne Fühler (S. 61)
Liebe, so scheint es, ist nichts für Feiglinge. Vielleicht ist die Messlatte romantischer Filme arg hoch gelegt. Zumindest, bis man/frau anfängt, das Strickmuster zu durchschauen:
die Liebenden vereinttrotz aller Widrigkeiten ...ist dies nicht der Punkt,an dem eine Geschichteerst wirklich beginnt? (S. 58)
So viel zum Mythos “happy end". Wer will schon das Ende? Und wer glaubt allen Ernstes, das Glück auf Dauer zu stellen? Wo andere Gesetze gelten als die des Films, lautet die große Herausforderung, dass die Liebe und der Alltag zueinander finden. Ein Wagnis ist und bleibt das ganze Leben — und Angst kein guter Ratgeber:
"Kommt der Tag,dass es nicht mehr passt, lass esuns gut beenden." –eine Liebe; die so spricht,ist wohl schon keine mehr... (S. 60)