Rüdiger Jung: Ingrid Gretenkort-Singert - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

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In memoriam Ingrid Gretenkort-Singert
Rüdiger Jung

Im Juni jährte sich zum zehnten Mal der Todestag Ingrid Gretenkort-Singerts Gründungsmitglied der Deutschen Haiku-Gesellschaft und eine faszinierende Persönlichkeit. Nicht nur, weil sie neben längeren Gedichten und Prosa Haiku, Senryu, Tanka und Tan-Renga schrieb. Nicht nur, weil sie als Sabaki zahlreiche Kasene und Hyakuine initiierte, moderierte, koordinierte, redigierte und herausgab. Allererst war sie eine begnadete Bildende Künstlerin und Kunstpädagogin. Es mag dieser ganz eigene Blick gewesen sein, der ihre Kurz- und Partnergedichte nach japanischem Vorbild in besonderer Weise ausgezeichnet hat. Ihre Bücher waren nicht einfach Bücher. Es waren handgefertigte bibliophile Schätze.
Drei dieser bibliophilen Kostbarkeiten sind ganz dem Tanka vorbehalten, drei weitere enthalten neben Haiku und Senryu auch Tanka (vergleiche die abschließende Bibliographie) Anhand von Beispielen aus vier der sechs Bände möchte ich noch einmal an ihr Tanka-Schaffen erinnern.

Kastanienbäume
Kronleuchter des Frühlings
jetzt schimmert Smaragd
schon locken Schachblumen
zu einer Wiesenpartie
(aus: "Tanka Tanka")

Schon in diesem ersten Text, den ich zitieren möchte, leuchten ihre Fähigkeiten auf: Der genaue künstlerische Blick. Die Gabe, eine Stimmung einzufangen und zu beschwören. Das Spiel mit der Doppeldeutigkeit: die "Wiesenpartie", die sich auf "Schach-" beziehen, aber auch einfach auf eine Wanderung deuten kann. Der Grundton ist heiter, was nicht heißt, dass der Autorin die Ambivalenz der Natur entginge:

Süßen Nektar saugte
ein gieriges Bienchen aus
Weidenkätzchens Pelz
auch ein Kater lechzt nach der
brütenden Blaßspötterin
(aus: "Bartflechten und Frauenhaar")

Der Grundton der japanischen Poesie, ein wehmütiges Wahrnehmen der Vergänglichkeit, beseelt auch das Schreiben der Autorin – auf- und eingefangen von einer beachtlichen Musikalität:

Auf dem Nestrand heut
Ballett der Storcheleven:
bald sind sie flügge
mit dem Regen, mit dem Wind
auch die Jungen südwärts ziehn
Zugvögel (aus: "23 Tanka")

Aber auch darin hat die Bildende Künstlerin ihre "japanische" Lektion gelernt: Das Vergängliche ist das Schöne. Die Schönheit macht das Vergängliche kostbar:

Erst wenn der Herbstmond
kalt welkende Blätter bricht,
werden Flügel still.
Spinnwebfein knüpft Sonne jetzt
Gold in die nackten Zweige
(aus: "Bartflechten und Frauenhaar")

Es gilt, die Zeichen der Zeit, mehr noch: der Zeitlichkeit / Endlichkeit / Sterblichkeit zu erkennen und gleichwohl zu jener Gelassenheit, jenem Gleichmut zu finden, die den Haijin auszeichnet:

Unbekümmert
schwebt über mir heiß atmend
ein Fesselballon
da alle Schwüre schweigen
füllt mein Herz Zufriedenheit
(aus: "Tanka Tanka“)

Es ist ein Verzicht auf Gier und Begehrlichkeit, auf Habenwollen und Egoismus, die das Tor zur "Zufriedenheit" öffnet. Man kann dieses Tanka als eine Absage an das sehen, was Buddha "Durst" nennt. Nicht minder legt sich der Gedanke an Epikur nahe, den griechischen Philosophen, der ein glückliches Leben daran fest machte, die Ausschläge von Lust und Schmerz, von Freude und Leid gleichermaßen gering zu halten. Auch er hatte seinen Garten da, wo "alle Schwüre schweigen".
Ein Blick auf die Tanka-Dichtungen Ingrid Gretenkort-Singerts bliebe unvollständig ohne den Hinweis auf das, was sie besonders auszeichnet: ein einzigartiger und unnachahmlicher, den Sprachwitz nicht entbehrender Humor:

Der Storch im Salat
ist gierig auf Froschschenkel
die Mücke auf mich
Signale des Sonnenglücks
entzünden alle Herzen
Dauerbrenner (aus: "19 Tanka")
 
Bibliographie:
  1. 22 Tanka in: Ingrid Gretenkort-Singert: Tanka Haiku Senryu. Cuxhaven, 1991.
  2. 4 Tanka in Ingrid Gretenkort-Singert: Bartflechten und Frauenhaar. Cuxhaven, 1993.
  3. Ingrid Gretenkort-Singert: 19 Tanka. Laatzen bei Hannover, 2003.
  4. Ingrid Gretenkort-Singert: 23 Tanka. Laatzen bei Hannover, 2003.
  5. Tanka Tanka. Laatzen bei Hannover, 2005 (23 Texte).
  6. Tanka in: Ingrid Gretenkort-Singert: Lyrik in Wort und Bild. Laatzen bei Hannover, 2009.

Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
09126 Chemnitz
Deutschland
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Birgit Heid
Mail: einsendung@einunddreissig.net
(C) 2025. Alle Rechte bei Tony Böhle und den AutorInnen.
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