In memoriam Ingrid Gretenkort-Singert
Rüdiger Jung
Im Juni jährte sich zum zehnten Mal der Todestag Ingrid Gretenkort-Singerts – Gründungsmitglied der Deutschen Haiku-Gesellschaft und eine faszinierende Persönlichkeit. Nicht nur, weil sie neben längeren Gedichten und Prosa Haiku, Senryu, Tanka und Tan-Renga schrieb. Nicht nur, weil sie als Sabaki zahlreiche Kasene und Hyakuine initiierte, moderierte, koordinierte, redigierte und herausgab. Allererst war sie eine begnadete Bildende Künstlerin und Kunstpädagogin. Es mag dieser ganz eigene Blick gewesen sein, der ihre Kurz- und Partnergedichte nach japanischem Vorbild in besonderer Weise ausgezeichnet hat. Ihre Bücher waren nicht einfach Bücher. Es waren handgefertigte bibliophile Schätze.
Drei dieser bibliophilen Kostbarkeiten sind ganz dem Tanka vorbehalten, drei weitere enthalten neben Haiku und Senryu auch Tanka (vergleiche die abschließende Bibliographie) Anhand von Beispielen aus vier der sechs Bände möchte ich noch einmal an ihr Tanka-Schaffen erinnern.
KastanienbäumeKronleuchter des Frühlingsjetzt schimmert Smaragdschon locken Schachblumenzu einer Wiesenpartie
(aus: "Tanka Tanka")
Schon in diesem ersten Text, den ich zitieren möchte, leuchten ihre Fähigkeiten auf: Der genaue künstlerische Blick. Die Gabe, eine Stimmung einzufangen und zu beschwören. Das Spiel mit der Doppeldeutigkeit: die "Wiesenpartie", die sich auf "Schach-" beziehen, aber auch einfach auf eine Wanderung deuten kann. Der Grundton ist heiter, was nicht heißt, dass der Autorin die Ambivalenz der Natur entginge:
Süßen Nektar saugteein gieriges Bienchen ausWeidenkätzchens Pelz –auch ein Kater lechzt nach derbrütenden Blaßspötterin
(aus: "Bartflechten und Frauenhaar")
Der Grundton der japanischen Poesie, ein wehmütiges Wahrnehmen der Vergänglichkeit, beseelt auch das Schreiben der Autorin – auf- und eingefangen von einer beachtlichen Musikalität:
Auf dem Nestrand heutBallett der Storcheleven:bald sind sie flüggemit dem Regen, mit dem Windauch die Jungen südwärts ziehn
Zugvögel (aus: "23 Tanka")
Aber auch darin hat die Bildende Künstlerin ihre "japanische" Lektion gelernt: Das Vergängliche ist das Schöne. Die Schönheit macht das Vergängliche kostbar:
Erst wenn der Herbstmondkalt welkende Blätter bricht,werden Flügel still.Spinnwebfein knüpft Sonne jetztGold in die nackten Zweige
(aus: "Bartflechten und Frauenhaar")
Es gilt, die Zeichen der Zeit, mehr noch: der Zeitlichkeit / Endlichkeit / Sterblichkeit zu erkennen und gleichwohl zu jener Gelassenheit, jenem Gleichmut zu finden, die den Haijin auszeichnet:
Unbekümmertschwebt über mir heiß atmendein Fesselballonda alle Schwüre schweigenfüllt mein Herz Zufriedenheit
(aus: "Tanka Tanka“)
Es ist ein Verzicht auf Gier und Begehrlichkeit, auf Habenwollen und Egoismus, die das Tor zur "Zufriedenheit" öffnet. Man kann dieses Tanka als eine Absage an das sehen, was Buddha "Durst" nennt. Nicht minder legt sich der Gedanke an Epikur nahe, den griechischen Philosophen, der ein glückliches Leben daran fest machte, die Ausschläge von Lust und Schmerz, von Freude und Leid gleichermaßen gering zu halten. Auch er hatte seinen Garten da, wo "alle Schwüre schweigen".
Ein Blick auf die Tanka-Dichtungen Ingrid Gretenkort-Singerts bliebe unvollständig ohne den Hinweis auf das, was sie besonders auszeichnet: ein einzigartiger und unnachahmlicher, den Sprachwitz nicht entbehrender Humor:
Der Storch im Salatist gierig auf Froschschenkeldie Mücke auf michSignale des Sonnenglücksentzünden alle Herzen
Dauerbrenner (aus: "19 Tanka")
Bibliographie:
- 22 Tanka in: Ingrid Gretenkort-Singert: Tanka Haiku Senryu. Cuxhaven, 1991.
- 4 Tanka in Ingrid Gretenkort-Singert: Bartflechten und Frauenhaar. Cuxhaven, 1993.
- Ingrid Gretenkort-Singert: 19 Tanka. Laatzen bei Hannover, 2003.
- Ingrid Gretenkort-Singert: 23 Tanka. Laatzen bei Hannover, 2003.
- Tanka Tanka. Laatzen bei Hannover, 2005 (23 Texte).
- Tanka in: Ingrid Gretenkort-Singert: Lyrik in Wort und Bild. Laatzen bei Hannover, 2009.
[zurück]