MICHAEL GROIßMEIER ZUM 90. GEBURTSTAG
EIN DICHTER UND SEINE TANKA
Rüdiger Jung
In diesem Jahr hat Michael Groißmeier sein neuntes Lebensjahrzehnt vollendet. Von 1980 bis 2010 hat er insgesamt elf (zum Teil sehr umfangreiche) Bände mit eigenen Haiku herausgebracht. Überdies war er Mitarbeiter einer Edition von Haiku aus Hokkaido. Was vielleicht weniger bekannt ist: eines seiner Bücher ist ein Tanka-Band:
Michael Groißmeier: Glück wie Tau. Hundert Tanka. Waldkirch: Waldkircher Verlag, 2000. 64 Seiten. ISBN 3-87885-335-1
In seinem kurzen Nachwort vermerkt der Autor die unterschiedlichen Möglichkeiten und Charaktere der Gattungen Haiku und Tanka: "Während sich (...) das Haiku fast immer auf einen Naturgegenstand bezieht und zum Weiterspinnen geradezu einlädt, ist das Tanka ein geschlossenes Ganzes, und steht allen Thematiken, auch denen außerhalb der Natur, völlig frei." (S. 57). Wie die japanische Poesie stecken auch Groißmeiers Tanka voller Konnotationen und intertextueller Bezüge: Kants "bestirnter Himmel" ("Der Blütenwipfel" S. 11); Ezra Pound ("Menschengesichter", S. 25), "Amazing Grace" ("Tausend Jahre lang", S. 46). Eines der Tanka hat offensichtlich ein klassisches chinesisches Gedicht zum Hintergrund:
Zwei gute Freundehabe ich wenigstens noch,die ihre Treueimmerdar mir erweisen:den Mond und meinen Schatten. (S. 41)
Die Worte, die Groißmeier für "Bilder der flüchtigen Welt" findet, sind von geradezu archetypischer Eindringlichkeit:
Die Regentropfen,schräg an Zweigen aufgereiht –wenn einer abfällt,rückt schon der andere nach,wartet auf den eigenen Fall. (S. 26)
Das vielleicht bewegendste und anrührendste der Tanka ist eine Liebesklage von geradezu orphischer Wucht:
Daß du wiederkehrstim Frühling mit den Schwalben,hoff ich Jahr für Jahr –aber aus der anderen Welt,keiner kehrt aus ihr zurück! (S. 8)
Trauer ist eine Aufgabe, die als Fortsetzung der Liebe zum Leben verpflichtet ("tot ist nur, wer vergessen ist"):
Ein Ende machennach dem Tod der Geliebten?Soll sie denn nochmalssterben mit meinem Herzen,endgültig gestorben sein? (S. 45)
Viele der Tanka konstatieren ein klares Gegenüber von Mensch und Natur. Die Natur ist, was sie ist, Der Mensch ist – selbst wo er in glückliche Naturbetrachtung versunken ist – Sorge:
Am hohen Himmel,horch, die Lerche singt ihr Lied!So ohne Sorgen,so leicht und frei am Himmelschwebt sie, daß ich um sie bang! (S. 34)
Die Natur ist von anderer Qualität – selbst, wo sich ihr nur der kürzeste Zeitraum eröffnet:
Kurz die Spanne Zeitzwischen Aufgehn und Zugehnder Ackerwinde!Die Eintagsfliege verbringtmit nichts sie als mit Tanzen! (S. 24)
Nur ein Tag? Ja, nur ein Tag! Aber der ist ein einziger Tanz, ein einziges Fest!
Nein, der Mensch ist kein leuchtendes Gegenüber der Natur. wie oft ergeht er sich in Streit und Zwistigkeiten:
Der Kirschblütenduftaus dem Garten des Nachbarn –er duftet wie eh,ist mir nicht fremd gewordenwie übers Jahr der Nachbar. (S. 10)
Gerechtigkeit ist eher eine Sache der Natur – wird man doch den Brunnen, von Menschen gebaut, von der Natur gefüllt – eher letzterer zuzuordnen haben:
Ob einer reich ist,oder ob einer arm ist,dem Brunnen ist's gleich –mit kühlem Wasser füllt erjedem Dürstenden die Hand. (S. 26)
In Japan hat Groißmeier allerhöchstes Lob erfahren. Prof. Hachiro Sakanishi schreibt: "Michael Groißmeier beherrscht in vollkommener Weise die Ästhetik der 905 in Japan entstandenen Kurzgedicht-Anthologie Kokinwakashu." (S. 61). Vergessen wir nicht: er spricht hier von der aufs Äußerste verfeinerten, subtilen und nuancierten Ästhetik des höfischen Japans.
Besonders scheint mir das nachvollziehbar an Texten mit einer paradoxalen Volte die nicht im erwartbaren Ende münden, sondern in einer verblüffenden Wendung:
Um die Nachtigall,die draußen im Flieder singt,um die Nachtigall,um sie klarer zu hören,muß ich das Fenster schließen. (S. 9)
Natürlich verringert das Schließen der Tür Klang und Lautstärke. Das verstärkte Spitzen der Ohren indes korrespondiert der Sehnsucht.
Je süßer sie singt,die Nachtigall im Käfig,Freiheit erheischend,desto tauber stell ich mich,verschließ mich ihrem Gesang. (S. 9)
Die Tragik der Nachtigall: je inniger sie singt, desto geringer ihre Chance freizukommen. Ihr wird nicht zugestanden, in eigener Sache zu singen. "Freiheit erheischend" – das requiriert und adaptiert der Herr des Käfigs für sich selbst.
Jahr um Jahr verdorrtdem Kirschbaum ein Zweig, ein Ast –ich fürchte den Tag,da nurmehr ein einziger,der allerletzte, erblüht. (S. 17)
Würde man nicht einen anderen Gegenstand der Furcht erwarten – den Moment, wo alles verblüht ist? Und doch ist das Gedicht sehr viel stimmiger, sehr viel präziser. Die letzte Blüte ist noch sehr viel bewegender, berührender im Blick auf Vergänglichkeit, Endlichkeit, Sterblichkeit. Das wusste schon Goethe in seinem späten Zyklus der "Chinesisch-deutschen Jahreszeiten":
"Ein Spätling noch am Stocke glänzt / und ganz allein die Blumenwelt ergänzt". Schließen möchte ich meine Betrachtung der Tanka des Jubilars mit Texten von besonderer Bildkraft, die den Gestirnen des Tages und der Nacht gelten:
Vögel stibitzenden Sonnenblumen Kerne –doch wird euch Diebender Schnabel sauber bleibenbei der Sonne dazwischen! (S. 20)
Das Messer des Mondszerschneidet das Abendrot,eine Melone –im Fruchtfleisch die Kerne spucktder Wind aus, braune Sterne. (S. 36)
Hat wer den Schneeballso hoch emporgeworfenzum Abendhimmel,daß er kreisen muß oben,immerzu kreisen als Mond? (S. 53)
Das dünne Mondeis –ob es mich tragen könnte,ob ich einbrächeund in die Nacht versänke,in die Tiefe des Himmels? (S. 55)
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