Besprechung: Bedenken - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

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BEDENKEN EINE TANKA-BESPRECHUNG
Horst Ludwig

Tief im Buchenwald
frisst sich grimmig die Säge
durch alte Stämme...
Ein letzter Sturz, ein Krachen
dann nur noch Grabesruhe.

Conrad Miesen
Einunddreißig, Nr. 18, August 2017

Dieses Tanka ist klar geschrieben; zum Verständnis muss nichts hinzugefügt werden, jedes Wort trägt mit seiner Bedeutung zur Darstellung des Gesamten bei und braucht nicht erst tiefer befragt zu werden, etwa nach Etymologie oder Anspielungen. Jeder weiß gleich, was hier Sache ist.
Aber welches Drama von Unüberhörbarem, Bestürzendem, Mächtigem kommt hier in einem ja doch nur kurzen Tanka zur Sprache! Es führt uns nicht nur in ein Waldgebiet, sondern "tief" in einen Wald, weit weg von Gewohntem und Sicherem, das uns Zuhause und Nähe vertrauter anderer bieten. Er ist jedoch auch ein Arbeitsplatz, wo mitgeholfen wird, dass wir in unserem Zuhause wie gewohnt leben können.
Und was geschieht hier an diesem Arbeitsplatz? Die Säge "frisst sich" durch Bäume, laut, aggressiv, durch dicke Stämme, "alte", von Natur her ausgewachsene, reife Stämme, welche dann letztlich nicht einfach wegbrechen, sondern nur mit guter Sägekunst gestürzt werden. Erst durch solche stürzen sie, und es kracht beim Brechen des letzten Zusammenhalts mit dem aus der Wurzel noch aufragenden Stumpf und beim Aufschlag und Brechen des Astwerks auf hartem Boden. Danach Ruhe, "Grabesruhe", jedenfalls nach diesem Text.
Er fiel mir in einer August-Nummer dieser Zeitschrift auf. Das war aber nicht die Jahreszeit, die ich in den Text hineinlas. Er erinnerte mich an meine Kindheit in einem Dorf in Oberschlesien, wo im Winter die Bauern im Walde Bäume fällten, weil sie auf den Feldern nichts mehr tun konnten. Holz wurde gebraucht, für den Herd in der Küche und zum Heizen der guten Stube am Sonntag. Dazu fällte man mächtige alte Bäume. Holz für Zimmerleute, Stellmacher, Böttcher, das ist Industrieholz und wird anders geerntet und auch nicht nur im Winter. Da fallen viele Bäume, nicht nur die mächtigen alten. In den USA, wo ich jetzt wohne, sehe ich auf meinen Reisen oft ganze Bergrücken nacktgeschlagen, der Boden jetzt den Regenfällen zum Wegwaschen brachgelegt, und da sind Wälder nie wieder zurückzubringen. Hier im Tanka ist es "ein letzter Sturz"; es sind also eher mehrere Bäume, die da gefällt werden, industrielles Holzschlagen ist also wohl anzunehmen. Aber wir hören nichts von weiterem Arbeitslärm, keine Vorbereitung für Abtransport, kein weiteres Absägen der Äste, kein Pferdewiehern oder Treckerrattern, nur noch "Grabesruhe".
Irgendwie ist damit dieser Text nicht mehr bloßer Bericht, irgendwie haben wir hier eine Übertragung des Geschehens in eine andere, zwar parallele, aber im Erleben doch andere Ebene. Leben von Bäumen ist zwar zu Ende gekommen, Feierabend, und es wird morgen weitergearbeitet. Wer denkt bei sowas jedoch an "Grabesruhe". Sicher doch nicht die Arbeiter im Walde. Wer, der von weitem zuhört? Soll der Leser an Grabesruhe denken?
Mörikes "Ein Tännlein grünet wo" leitet ihn in eine andere Lebenszeit, die auf den ersten Blick auch gar nichts mit dem zunächst Angesagten zu tun hat. Auch dieses Tanka nimmt ihn vom Bericht aktuellen Geschehens recht unmittelbar zu umgreifenderem Bedenken.
Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
D-09126 Chemnitz
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Mail: einsendung@einunddreissig.net
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