Der Herbst ist da -
kaum sichtbar den Augen
doch lässt er sich
deutlich vernehmen
im Rauschen des Windes.
- Fujiwara no Toshiyuki
über Einunddreißig
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Was sind Tanka?
Für gewöhnlich möchte man sagen, ein japanisches Gedicht in fünf Zeilen zu 5/7/5/7/7 Silben – das haben wir alle am Anfang so gelernt. Das Tanka so zu betrachten, aus einem rein formalen Blickwinkel, ist sicherlich die am einfachsten fassbare Definition, aber auch die oberflächlichste. Die Regel der 31 Silben gilt für das Tanka genau so viel oder eben wenig, wie die Regel der 17 Silben für das Haiku und ist selbst im Land seiner Herkunft immer wieder für das eine oder andere künstlerische Ziel beiseitegelegt worden. Gleiches gilt für die Aufteilung in fünf Zeilen. Ohnehin ist es nur begrenzt möglich, die japanische Sprache und ihre Lauteinheiten, die Moren, mit den Silben der westlichen Sprachen zu vergleichen.
Was das Wesen des Tanka ausmacht, ergründet sich erst auf den zweiten Blick und nach vielen Stunden des Lesens. Die beste Beschreibung dessen wurde bereits von den alten japanischen Meistern gegeben und ist im Vorwort zum Kokin Wakashū, der wohl bekanntesten klassischen Tanka-Sammlung, eindrucksvoll auf den Punkt gebracht:
„Ohne große Kraftanwendung bewegt es Himmel und Erde, besänftigt die Gefühle unsichtbarer Geister und Götter, schafft Gleichklang zwischen Mann und Frau und bringt Ruhe in die Herzen zorniger Krieger.“
Auch wenn Geister, Götter und zornige Krieger nicht mehr so recht in unsere Zeit passen wollen, hat dieser Satz nichts von seiner Gültigkeit verloren. Jede Generation von Tanka-Autoren musste ihre eigene Antwort darauf finden, wie in nur fünf Zeilen Himmel und Erde ohne Kraftanstrengung zu bewegen sind. Beschäftig man sich mit den großen Gestalten des Tanka wird man erstaunt sein, wie verschieden und immer wieder faszinierend neu diese Antworten ausfallen können. Eine kleine Kostprobe gefällig?
Wie wäre es, Du!
Könntest du nicht mal, schwupps
– wie man nach einem
fallenden Blatt hascht –
zupacken und mich entführen?
– Kawano Yūko [2]
In Meerestiefen
wohnen Fische ohne Augen
so heißt es –
Fisch ohne Augen
Wie gern wär ich das!
– Wakayama Bokusui [1]
Die ersten Strahlen
der Neujahrssonne fallen
auf die Käfige
von Kamel und Elefant...
Welche Träume träumen sie?
– Miya Shūji [3]
wie aus Angst
daß man hört
was ich denke
unwillkürlich
zurückweichend
vor dem Stethoskop
– Ishikawa Takuboku [5]
Ein Glas Sake und
Mit ihm die Lebensweisheit
Der Frau in ihrem
Imbiss am Strand dringen
Langsam in meinen Magen
– Tawara Machi [4]
So wundervoll einfach und lyrisch können Tanka sein, Himmel und Erde ohne Anstrengung bewegen und uns gleich dazu! In seiner mehr als 1300-jährigen Geschichte ist es dem Tanka immer wieder gelungen, sich neu zu erfinden, den Erfordernissen der Zeit anzupassen und dabei doch sein Wesen zu bewahren. Vielleicht besitzt diese minimalistische Form heute sogar eine größere Aktualität, als je zuvor. Gerade weil sie es vermag, uns mit nur wenigen Silben der hektischen Welt zu entreißen, an einen anderen Platz, in eine andere Zeit und ein anderes Leben zu versetzten, einen Blick durch die Augen einen Fremden zu gewähren und uns mit dieser Erfahrung zurück an Ort und Stelle zu bringen.
Auch wenn das Tanka schon längst im Land der Dichter und Denker angekommen ist, hat es keinen leichten Stand. Von der Popularität seines jüngeren Vetters, des Haiku, überstrahlt, muss es oft ein Schattendasein fristen. Doch braucht das Tanka, bei allem was es selbst zu bieten weiß, diesen Vergleich gar nicht zu scheuen!
Angesichts der langen dichterischen Tradition des Tanka und einer Autorencommunity, die mittlerweile rund um den Erdball reicht, mag sich die Frage stellen, ob nicht schon längst alles gesagt und geschrieben sei. Die Antwort lautet zum Glück: nein! Wer mit offenen Augen durch unsere moderne Welt geht, Werbung, Technik, Medien, Wiedersprüche, Absurditäten, Politik und Zwischenmenschliches beobachtet, wird Inspiration im Überfluss finden.
[1] Wakayama, Bokusui: In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter. Moderne Tanka. Unter Mitarbeit von Eduard Klopfenstein, Manesse Verlag, München, 2018.
[2] "Gäbe es keine Kirschblüten ... Tanka aus 1300 Jahren", Philipp Reclam jun., Stuttgart, 2009.
[3] Amelia Fielden, Kozue Uzawa: Ferris wheel. 101 modern contemporary tanka. MA: cheng & Tsui co., Boston, 2006. Übersetzung: Tony Böhle.
[4] Ishikawa Takuboku: Trauriges Spielzeug. Gedichte und Prosa. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1991.
[5] Christine Mitomi: Das "Sarada Kinenbi" der Dichterin Tawara Machi: Untersuchung zu dem Millionenerfolg einer Gedichtsammlung in Japan, 1990.
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