EDITORIAL
Liebe Freundinnen und Freunde des Tanka-Magazins "Einunddreißig",
der Sommer hat bereits den Zenit überschritten, und noch während wir ihn genießend in die Länge zu ziehen versuchen, klopft bereits die Erntezeit an die Tür dieses Jahres. Was hier ein wenig idyllisch formuliert ist und einer Wunschvorstellung entsprechen könnte, sieht in der Lebenswirklichkeit, bis auf die Benennung der Jahreszeit, in der Regel eher anders aus.
Von Genießen kann man oftmals nur ansatzweise am Ende eines anstrengenden Arbeitstages sprechen, wenn man nach seiner Tätigkeit mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln die Fahrstrecke überwunden hat und wenn man, den Kopf noch voller Termine, Pläne und Konflikte, auf eine schnelle Möglichkeit des Abschaltens hofft.
Ein paar Bier bringen zwar eine gewisse Erleichterung, saugen jedoch auch die Aufmerksamkeit auf die schönen Dinge, die man am Feierabend erleben könnte, ab. Nicht die beste Idee auf die Dauer. Aber in dem Moment tröstlich, wenn man in einer entspannten Situation nicht auch noch daran denkt, dass insbesondere die in meinem Eingangssatz erwähnte Ernte alles andere als romantisch abläuft. Von unerträglicher Hitze, anhaltendem Wassermangel, chronischer Unterversorgung von Arbeitskräften, ungesundem Pestizideinsatz bis hin zu überlangen Fahr- oder Flugstrecken des Ernteguts – wenn man nur den Ertrag von Nahrungspflanzen betrachtet – alles haben. Das gehört zur Realität der Ernte, wenn man sich nicht bewusst anders entscheidet oder sogar einen Pflanzgarten sein Eigen nennt.
Selbstversorgung als Hobby sozusagen, das jedoch auch unverhofft große Ausmaße annehmen kann. Von Tierzucht mal ganz zu schweigen. Was bis vor einigen Generationen selbstverständlich war, wird heutzutage oftmals als Rentnertätigkeit belächelt. Nach dem Motto: wenn mir im wohlverdienten Ruhestand nichts anderes einfällt, dann könnte eine erdverbundene Tätigkeit auch etwas für mich sein. Dabei möchte man doch viel lieber hinaus in die Welt reisen, mit dem Flugzeug oder dem Wohnmobil fremde Kulturen und leckere Speisen entdecken und den Sommer genießend in die Länge ziehen.
Doch wie viel bleibt davon übrig, wenn ein Jahr vergangen ist? Denkt man noch an seinen letzten und vorletzten Urlaub und die Details der Erfahrungen? Betrachtet man noch die älteren Fotos oder wurde durch das Fotografieren lediglich der Jagdtrieb befriedigt? Dienen womöglich fremde Kulturen nur dem schnellen Kick? Was bleibt von dem Überfluss und auch der Ernte unseres eigenen Lebens? Ein „Ich will noch 100 Ziele erreichen“? Ein Habenwollen auch auf der immateriellen Seite? Wie viel unseres Lebens wird dem Beutemachen zugeordnet, wie viel geschieht ganz allgemein in großer Eile?
Den Spätsommer in seinen wohltuenden Facetten zu genießen, zur Ruhe zu kommen und die Kraft der Bereicherung zu erspüren, die von kleinen Dingen ausgeht (die man nur erkennt, wenn man genügend Muße hat) sowie sich darin zu üben, loszulassen, was ärgert, und in nicht notwendiger Weise unsere Zeit beansprucht, könnte auch zum Sommer gehören, der dem Herbst bald Platz machen wird. Gönnen wir uns diese kostbaren Momente! Das wünsche ich allen Tanka-begeisterten Menschen.
Mit poetischen Grüßen
Ihre Birgit
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