EDITORIAL
Liebe Tanka-Freundinnen und -Freunde,
die fünfte Jahreszeit ist angebrochen, doch hält sich in diesem Jahr meine Feierlaune deutlich in Grenzen. Wenn ich auf einer Party eingeladen wäre, als was würde ich mich verkleiden wollen? Als Hippie oder eingewickelt in eine Regenbogenfahne?
Ausgelassenheit ist derzeit nicht meine vordergründige Stimmung. In den letzten Tagen habe ich einen Brief an einen Bundestagsabgeordneten meines Wahlkreises geschrieben, Kommentarzeilen in den sozialen Medien gefüllt, eigene Beiträge gepostet, Petitionen unterschrieben und Stellungnahmen formuliert. Sehr viel ist auf der politischen Bühne in den letzten Wochen geschehen und viel liegt noch vor uns. Mich erschüttert die Entwicklung hin zum rechten Lager der Macht und zu einem autoritärem Führungsstil. Es wird plötzlich bedeutsam, sich zum Grundgesetz und den Menschenrechten zu bekennen, dem Überschwang an Zorn verbal Einhalt zu gebieten, Falschnachrichten richtigzustellen und sich dennoch bewusst zu sein, dass politische Entscheidungen etwas mit der persönlichen Haltung zu tun haben. Wonach sich der Mensch tendenziell ausrichtet, ob nach sich selbst und ausschließlich seinem engeren Personenkreis oder nach dem Wohl der Gesellschaft, der Kommune oder der Menschheit und den ganzen Ökosystem, spielt eine Rolle bei der Entscheidung für oder gegen eine Partei. Dabei erlebe ich in meinem dörflichen Umfeld, dass sich viele Menschen kaum für Politik interessieren. Weil Politische Themen zu kompliziert oder zu emotional sind. Im ersten Fall bedeutet es, dass man sich keine Zeit für den Nachvollzug politischer und durchaus auch einflussreicher Entscheidungen nimmt, im zweiten Fall spielen die genannten Haltungen eine Rolle. Mein eigenes Elternhaus war konservativ geprägt und eine andere Meinung wurde verächtlich abgetan. Die selbe Emotionalität begegnet einem auch heute. Die verschiedenen Lager stehen sich offenbar unversöhnlich gegenüber. Wenn man im Gespräch nachfragt, worum es eigentlich geht, bestätigst sich durchgehend, dass vehement geäußerte Schlagworte schneller in den Vordergrund drängen als Argumente und die Erläuterung komplexer Zusammenhänge. So werden Vorurteile anstelle nachweislicher Grundlagen zu verbalen Waffen eingesetzt, um Gleichgesinnte hinter sich zu scharen bzw. seine Gruppenzusammengehörigkeit zu demonstrieren.
Dabei gäbe es in der Gesellschaft viel zu tun. Sei es im karitativen oder Sportverein, sei es in der Vermittlung wichtiger Kulturtechniken oder bei der Lebensbegleitung alter und jugendlicher Menschen. Doch glaube ich, dass viele dieser „Wutbürger“ kein Interesse daran haben, solidarische Taten zu vollbringen, sondern, dass Misstrauen und Neid zu ihrer Grundausstattung gehören. Eine unter sicherlich mehreren Ursachen kann in einer übersteigerten Angst, einer mangelnden Resilienz und in der Einsamkeit liegen. Einsame Menschen, sagen Fachleute, ziehen sich immer mehr zurück und entwickeln ein generalisiertes Misstrauen. Eine Folge ist, dass man sich in gleichgesinnten Gruppen zusammenschließt, die einem Halt geben. Ein Herauslösen aus dieser Selbstbestätigung scheint äußerst schwierig zu sein. Liege ich falsch, wenn ich den Bogen spanne von einer egoistischen Haltung zu einer gefährlichen Einsamkeit?
Immer wieder muss ich einen Weg heraus aus dem Strudel der Ereignisse finden. Mit täglichen Tanka über meine Lebenswelt bekomme ich Abstand und damit den Kopf wieder frei.
Hoffnungsvolle Grüße
eure Birgit
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