DIE SPUR DES TANKA SCHREIBT SICH FORT - EIN NEUER GEDICHTBAND VON REINER BONACK
Rüdiger Jung
Reiner Bonack: Zu Besuch unterm Mond. Gedichte.
Norderstedt: Books on Demand, 2023. ISBN 978-3-7528-7860-8. 144 Seiten.
Unter den Lyrikern, die sich mit sehr viel Wissen und Gespür um die Ursprünge der Tanka-Dichtung bemühen und gleichwohl einen ganz eigenen Zugang bei der Adaption der fernöstlichen Gattung suchen, ragt Reiner Bonack für mich hervor. Er stellt die großen Fragen und beschreitet beim Versuch einer Antwort verblüffende Wege:
was ist Glück, vielleicht
im Teeglas etwas Mondlicht,das ich trinke, auf der Terrasse,spät am Abend,langsam, ganz langsam. (S. 73)
Genaue Angaben zu Ort und Zeit scheinen das Unmögliche zu beglaubigen: Kann man Mondlicht trinken? Wichtiger noch scheint mir die Schlusszeile. Sie setzt der Vergänglichkeit des schönen Augenblicks Widerstand entgegen – in Form einer perpetuierenden Entschleunigung, wo ein "langsam" nicht mehr nur bremst, wo es vielmehr einhält und steht, wird die Zeit zur Ewigkeit. Es macht den ganzen Charme dieses "Glücks" aus, dass es sich in ein "vielleicht" kleidet. Von ähnlicher Qualität ist
DuftDuft gebackenen Brotes,als strömte er her durch die JahreSie wünschenEin Stück Kindheit,hätte ich fast gesagt (S. 9)
Einmal mehr wird die Zeit aufgehoben – diesmal auf olfaktorischem Wege (an Proust mag man denken und sein Madeleine-Gebäck). Eine wissende Selbstbeschränkung, die der Offenheit des "Sie wünschen" nicht einfach Raum gibt. Wie unerbittlich "fast" ist - verglichen mit einem "vielleicht". – "Kindheit" als Synonym für Glück? Mit Recht lässt der Autor hier äußerste Vorsicht walten – nicht nur, weil Erinnerung trügen kann, sondern mehr noch, weil sie manchmal verblüffend ehrlich ist:
11 Jahre altGeboren nachdem zweiten großen Krieg,spielten wirKrieg (S. 19)
Der Abstand zwischen vorletzter und letzter Zeile ist heilsame Ernüchterung: "Krieg" lässt sich nicht "spielen", er drängt zur Realität – unleugbare Spuren hinterlässt er in den Lebenslinien der Menschen:
Regen dunkeltdie Wände der alten HäuserGeh nicht so schnell,weißt du, ich sehedie Einschüsse noch (S. 75)
Das hallt bis in den Dreizeiler nach, der vielleicht nicht von Krieg, sondern "nur" von der Jagd, aber doch wohl auch vom Töten spricht:
Diese Stille über den FeldernNur ab und zu unterbrochenvon einem Schuss (S. 82)
Das sagt die Lebenserfahrung: alles Glück ist bedrängtes Glück, bedrohtes und gefährdetes Glück; darum, gerade darum drohen wir es ab und an zu verpassen:
Am Bahnhof seufzt ein AkkordeonSehnsucht in die Hasteilender Taschen, JackenSelten verliertjemand hier seine Zeit (S. 74)
Wahrscheinlich wäre genau das nötig: Zeit, Hast und Eile gelassen auf die Verlustliste zu setzen und einzutauschen gegen einen erfüllten Augenblick, in dem sich wie in einem Prisma die Ewigkeit verfängt. Innehalten – billiger sind Glück und Leben nicht zu haben und auch nicht Momente der wahren Begegnung – jener von Mensch zu Mensch:
Die alte Frauan der Pumpe fülltdie GießkanneIch trage siezum Grab ihres Mannes (S. 97)
Ich glaube nicht, dass die beiden einander kennen. Aber ich bin sicher, dass sie sich – offen für den Moment – bis in die tiefsten Tiefen ihres Wesens verstehen. Ein Umstand, der selbst das Alter der Frau relativiert – als eine Lebensphase größerer Einschränkung und Abhängigkeit, wie sie an anderer Stelle deutlich anklingt:
Geh Lehnstuhl, sagt sieGeh Lehnstuhl Setz dichGeh endlich LehnstuhlMusst Spritze kriegenKomm Geh Lehnstuhl Sitz (S. 44)
Zwei Einschränkungen begegnen einander: jene des Lebensalters und/oder der Pflegebedürftigkeit und jene der mit Sorgfalt gelernten und doch nicht ganz "beherrschten" Sprache. Ich denke an das Kümmern um alte Menschen, das – aus Not, gewiss – zu Drei-Monats-Phasen an osteuropäische Frauen delegiert wird, die… diesen Dienst bis zur Selbstaufgabe versehen. Und denen das "Sitz" schwerlich zum Vorwurf gemacht werden kann, das einem Hund gegenüber als Aufforderung zum Gehorsam zu lesen wäre.
Zu den berührendsten Gedichten Reiner Bonacks gehören mir jene, die nicht einfach im Gedenken, sondern im lebendigen Zwiegespräch mit seiner Frau entstehen.
Summender SommerIch sitze im GartenAuf dem Holztisch, noch immer,kreisrund, der Abdruckdeiner Tasse (S. 103)
Ich behaupte einmal, es ist allein "der Abdruck / deiner Tasse", der den "Summenden Sommer" als einen geteilten Moment von Ewigkeit zulässt. Da ist das insistierende "noch immer" und – mehr noch – das "kreisrund", das die lineare Vorgabe der Endlichkeit und der durch sie bedingten Trennung sprengt. – Was hinterlassen wir, wenn wir gehen? Lyrisch gesprochen nicht zuletzt unsere Spur in den Dingen, wie zufällig und verletzlich sie uns auch immer erscheinen mag:
Gegenüberauf dem Nachtschrank,neben dem leeren Bett:der Kopfhörer,der angebissene Apfel (S. 107)
"Der angebissene Apfel", der seit Genesis keineswegs nur für den Sündenfall steht, sondern auch dafür, dass zwei Menschen ein Leben und durchaus auch seine Last und Mühen teilen. – Am Ende ein durch-und-durch befreiendes Bild:
Löst sichTanztschwerelos fastüber den Blättern,die schon fielen (S. 108)
Ein Trost, dass ein fallendes Blatt in den Fall so vieler Blätter vor ihm einstimmt? Wohl nur bedingt. Aber wie es fällt: "Tanzt". Das ist Spiel und Leichtigkeit, kaum mehr gezwungen. Fast hat das "fast" seine Schwierigkeit, dem kraftvollen "schwerelos" gegenüber mit nur einer Silbe seinen letzten Rest von Schmerz zu behaupten!
Über die zitierten Beispiele hinaus schreibt sich die Spur der Tanka- (und Haiku-)Dichtung in fünf weiteren Texten des neuen Bandes fort (S. 50, 51, 78, 81, 106).
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