Tanka-Kommentar (Böhle) - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

Direkt zum Seiteninhalt
EIN KOMMENTAR ZU EINEM TANKA VON FRANK DIETRICH
Tony Böhle

diese Schaufensterpuppe
die nichts trägt
außer einem Hut
mir ist kalt
und heiß zugleich

Schaufensterpuppen sind in der Lage durch ihre pure Anwesenheit ambivalente Empfindungen in Menschen auszulösen, auch abhängig davon, wie realistisch oder sollte man sagen naturgetreu sie gearbeitet sind. Als Kleiderständer der besonderen Art sollen sie natürlich menschliche Züge tragen, um zu demonstrieren, wie formschön dieses oder jenes Kleidungsstück zu uns passen könnte. Gleichwohl sollen sie aber nicht so realistisch sein, dass eine ganz konkrete Person in ihnen zu erkennen wäre. Oder um es kürzer zu sagen: Sie sollen uns nahe kommen, aber bitte nicht zu nahe. Damit eignen sich Schaufensterpuppen auch bestens als Projektionsfläche für Gedanken, Empfindungen und Fantasien, die unserm menschlichen Dasein entlehnt sind:

Mannequins whisper to each other in blurred moonlight
- Mayuzumi Madoka

Schaufensterpuppen tuscheln untereinander im schummrigen Mondlich
- Mayuzumi Madoka

Oder was sollten sie sonst tun nach einem anstrengen Tag des regungslosen Dastehens, als über das zu lästern, was sie jenseits des Schaufensters erblickt haben oder die kalten Hände des Dekorateurs, der sie erst aus und dann neu angezogen hat?
Unwillkürliche Reaktionen der anderen Art löst eine ebensolche "Schaufensterpuppe" im lyrischen Ich des vorliegenden Tanka aus. Spärlich bekleidet, mit nichts "außer einem Hut", erweckt sie im Protagonisten einerseits das Gefühl von Anteilnahme, indem ihre fehlende Kleidung bei ihm das Gefühl des Fröstelns auslöst ("mir ist kalt"). Andererseits löst sie in ihm die Vorstellung einer realen Frau aus, die sich nur mit einem Hut bekleidet im Schaufenster zeigt. Diese Spannung zwischen exhibitionistischem und voyeuristischem Verhalten, lässt zugleich den Herzschlag und die Erregung des lyrischen Ichs steigen. Ihm wird "heiß zugleich". Nun kann man sich fragen, ob eine solche Erregung in Zeiten von jederzeit zugänglicher Pornographie nicht übertrieben erscheint? Wohl eher nicht! Denn hier steht eine Ambivalenz des Empfindens (kalt und heiß, Empathie und Erregung) im Vordergrund, die Ausdruck einer Gesellschaft zunehmender zwischenmenschlicher Distanzierung ist.

Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
09126 Chemnitz
Deutschland
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Birgit Heid
Mail: einsendung@einunddreissig.net
(C) 2023. Alle Rechte bei Tony Böhle und den AutorInnen.
Zurück zum Seiteninhalt