Tanka-Kommentar (Heid) - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

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EIN KOMMENTAR ZU EINEM TANKA VON ANGELICA SEITHE
Birgit Heid

Kathedrale
im Hochwald
ein Weg zwischen Säulen
und vorne im Fenster
das Maßwerk des Mondes

Die überwucherte Ruine einer Kathedrale im Wald, so sehe ich die Szenerie vor mir. Vögel zwitschern und der Hochwald ist ein Mittelgebirgszug, der sich vom Schwarzwald bis in den Hunsrück zieht. Doch es gibt auch andere Bergregionen, die Hochwald heißen. Offenbar sind von der Kathedrale noch Säulen oder deren Stümpfe vorhanden, und man kann das Ausmaß des Gebäudes erkennen oder erahnen. Die Atmosphäre dieses geschichtsträchtigen Bauwerks geht auch auf die Autorin über.

Sie geht behutsam den Weg zwischen den Säulen. Im Chorbereich steht offenbar noch eine Wand mit ihren Fensterlaibungen. Eine feierliche Stimmung liegt über diesem Kirchenteil. Welche Chöre sangen einstmals an diesem Ort? Hier kreuzten sich früher die Seitenarme und das Hauptschiff, hier stand der Altar, wo der Priester mit dem Rücken zu den Gläubigen aus der Bibel auf Lateinisch vorlas. Von der Orgel wehten getragene Töne.

Das Maßwerk als gotisches Dekorationselement ist ein wichtiges Erkennungszeichen mittelalterlicher Kirchen. Es ist kreisrund in Stein angelegt und unterschiedlich verziert. Im Zwickel von Türen, Fenstern, Balustraden und Türmen wurden Maßwerke eingesetzt. Sie wirken trotz ihrer Wuchtigkeit verspielt. Vielleicht ist das Maßwerk des einen Fensters abhandengekommen. Dort nun ist der Mond zu sehen, der entweder durch das Maßwerk scheint oder es mit seiner Strahlkraft ersetzt.

Ein Tanka, dass aus der Kontemplation und der stillen Beobachtung lebt. Das Kultur und Natur zusammenführt und den Mond als Stellvertreter des Weltalls miteinbezieht. Solche Orte und ein In-Sich-Gekehrtsein ist jedem Menschen gelegentlich zu wünschen.



EIN KOMMENTAR ZU EINEM TANKA VON MARIE-LUISE SCHULZE-FRENKING
Birgit Heid

ich höre
meine Urgroßmutter
schreien
bei der fünften
stillen Geburt

Ein berührendes Tanka über Generationen hinweg. Fünf Stillgeburten zu bekommen ist ein schier unmenschliches Leid. Waren es die Kriegsjahre, die bei der werdenden Mutter zu Unterversorgung führten, sodass auch das Kind im Mutterleib Not litt? Zu all dem Kummer der gefahrvollen und entbehrungsreichen Zeit, womöglich ohne Ehemänner, dann noch dieses Schicksal! Das zusätzlich weitere Gefahren von Blutverlust bis Brustentzündung barg. Abschiedsrituale gab es zu Zeiten unserer Urgroßmütter nicht so wie heute. Das tote Kind verblieb in der Klinik, wenn überhaupt. Die Mutter musste ihren unerträglichen Kummer allein bewältigen. Kein Wunder, dass man beim fünften stillen Kind nur noch Schreien kann.

Ob das lyrische Ich die Urgroßmutter persönlich schreien gehört hat? Wenn jeweils die Töchter im 16. Lebensjahr der Mutter zur Welt kamen, war die Urgroßmutter 48 Jahre alt und die Ich-Erzählerin gerade auf der Welt. So eindeutig das Tanka formuliert ist, erscheint mir ein persönliches Hören als sehr unwahrscheinlich. Wurde das unbarmherzige Schicksal und das Schreien Elends nach Nachkommen weitererzählt?

Es könnte vermutet werden, dass die Urenkelin selbst vom Schicksal einer wiederholten stillen Geburt betroffen ist und sich mit dem urgroßmütterlichen abgrundtiefen Kummer verbunden fühlt. Mit den selben Schreien, wie seinerzeit ihre Urahnin. Möglich ist jedoch auch die genetische Vererbung des unermesslichen Kummers, ohne ein eigenes Erleben, ein Hören aus dem Unterbewusstsein, das sich an bestimmten Punkten Bahn bricht und das Leid der Urgroßmutter nicht vergessen lässt. Es wird noch lange bestehen bleiben.
Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
09126 Chemnitz
Deutschland
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Birgit Heid
Mail: einsendung@einunddreissig.net
(C) 2025. Alle Rechte bei Tony Böhle und den AutorInnen.
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