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Ausgabe Nr. 2 August 2013
Für die August-Ausgabe von Einunddreißig habe ich aus den Einsendungen eine Auswahl von 25 Tanka getroffen und einen meiner eigenen Texte beigestellt. Ein Tanka, das mich besonders angesprochen hat, habe ich hervorgehoben und kommentiert. Als Sonderbeitrag erscheinen zwei Foto-Tanka von Helga Stania, die Tanka-Sequenz "Zeit" von Heike Gericke und die Tanka-Prosa "Embryonalhaltung" von Ingrid Kunschke.
Editorial
Dass wir in einer durch und durch technisierten Welt leben, ist uns spätestens seit den Enthüllungen über die Datensammelwut einiger Geheimdienste wieder bewusst geworden. Da mittlerweile fast alle Bereiche des täglichen Lebens von kleinen Einsen und Nullen beherrscht werden, denke ich manchmal mit einem leicht verklärten Blick an die Zeiten zurück, in denen man noch einen Nachmittag im Café um die Ecke verbringen konnte, ohne dass das permanente Klingeln von Mobiltelefonen zu hören war.
Obwohl ich mit meinen noch nicht einmal ganz dreißig Jahren sicherlich noch zur jüngeren Generation gehöre, kann ich mich noch erinnern, wie meine Großmutter ihre Briefe auf der Schreibmaschine getippt hat. Als kleines Kind war ich fasziniert von dem mechanischen Klicken der Tasten und den kleinen Typenhebeln, die nacheinander auf dem Papier einschlugen und dabei ihre Abdrücke hinterließen. Als ich neulich hörte, dass mittlerweile auch die verschiedenen Geheimdienste wieder beginnen Schreibmaschinen für ihre Korrespondenz einzusetzen – diese können ja schließlich nicht angezapft werden –, kamen mir diese Erinnerungen wieder in den Sinn. Meine Gedanken schweiften auch zurück an Filme, in denen der erfolgreiche (und manchmal verkannte) Autor in seinem kleinen Zimmer saß und mit einer Zigarette im Mund Zeile um Zeile tippte. So reifte schließlich der Gedanke, mir, wenn auch nur aus Spaß und Nostalgie, ein solches Schreibgerät zuzulegen. Nach einigen Recherchen musste ich allerdings feststellen, dass der weltweit letzte Hersteller von Schreibmaschinen bereits 2011 seine Produktion eingestellt hatte und mittlerweile nur noch Gebrauchtwarenmarkt existierte. Aber immerhin konnte ich über ein online-Auktionshaus ein kaum gebrauchtes Exemplar ergattern.
Als ich dann einige Tage später erwartungsvoll am Postschalter wartete, war ich zunächst ein bisschen geschockt von der Größe des Pakets, das mir überreicht wurde. Auch nach dem Auspacken blieb eine gewisse Verwunderung, dass eine Schreibmaschine trotz Ihres sehr begrenzten Funktionsumfangs doch das vielfache Gewicht eines Laptops auf die Waage bringen konnte. Nach dem Einspannen des Farbbandes und eines Blattes, das ich mit einer Ernsthaftigkeit und Konzentration wie bei einer japanischen Teezeremonie ausführte, füllte ich die leere Seite mit einigen Zeilen. Hatte mir die schwere Mechanik der Tasten zunächst noch das Gefühl zurückgegeben, dass auch Schreiben Arbeit ist, entsprach das Ergebnis dieser Anstrengungen schon nicht mehr ganz den Erwartungen: manche Buchstaben waren nur blass auf dem Papier abgebildet, andere tanzten aus der Zeile und die Typenhebel verklemmten sich recht oft. Meine Enttäuschung wuchs allerdings noch weiter, als ich mich wieder und wieder vertippte, von vorn beginnen musste und ein Blatt nach dem anderen zusammengeknüllt im Papierkorb landete. Doch spätestens als ich all die übersehenen Rechtschreibfehler und Buchstabendreher bemerkte, begann ich mir meine Backspace-Taste und die Autokorrekturfunktion von Word zurückzuwünschen, einmal ganz davon abgesehen, dass triviale Formatierungen wie Blocksatz oder die Wahl der Schriftart unerreichbarer Luxus waren. Nach kurzer Zeit war deshalb für mich klar, dass es triftige Gründe für das Verschwinden der Schreibmaschine aus unserem Alltag gab. In meinem Regal hat sie trotz allem einen Ehrenplatz gefunden als stete Erinnerung daran, wie schnell und einfach heute das Erstellen von Texten mit Laptop, Drucker und Co. möglich ist. Nicht zuletzt haben diese auch erst das Erscheinen von Einunddreißig möglich gemacht, dessen neueste Ausgabe jetzt online steht.
– Tony Böhle
Sonderbeiträge
Zeit – eine Tanka-Sequenz von Heike Gericke
Embryonalhaltung – Tanka-Prosa von Ingrid Kunschke
lila Wolken – ein Foto-Tanka von Helga Stania
Schwalben – ein Foto-Tanka von Helga Stania
Ein Tanka, das mich besonders anspricht
Am geharkten Grab
verschwitzt die Hände faltend
ein tattriger Greis.
Nicht fern klingt eine Glocke
den Abendangelus ein.
– Horst Ludwig
Ein Bild, das uns allen vertraut ist: ein alter Mann auf dem Friedhof. Kniend auf dem Boden rinnt ihm in der schwülen Hitze der Schweiß von der Stirn. Seine Hände schmutzig von der Erde, ist er ganz in die liebevolle Pflege des Grabes seiner Frau versunken. Wir werden hier zum heimlichen Beobachter dieser alltäglichen Begebenheit, in der etwas Unerwartetes geschieht. Plötzlich legt der Alte die Arbeitsgeräte zur Seite, faltet seine Hände und versinkt im Gebet. Sehr geschickt wird hier unsere Aufmerksamkeit erst im Nachhall auf das abendliche Angelusläuten (das in Horst Ludwigs Tanka immer wieder anzutreffen ist) einer nicht fernen Glocke gelenkt, die der Beobachter im ersten Moment gar nicht bemerkt zu haben scheint. Ein Tanka, das mich aus vielen Gründen berührt hat. Das plötzliche Innehalten beim Erklingen der Glocke zeigt nicht nur eine tiefe Gläubigkeit sondern auch das Verharren im Moment. Lässt uns doch der Glockenklang auch immer unsere eigene Endlichkeit, die im hohen Alter besonders deutlich wird, bewusst werden. So schwebt hier nicht nur der „Abendangelus“ in der Luft, sondern auch eine leise Vorahnung des Todes, die mit den Worten „nicht fern“ angedeutet und durch die Platzierung der Szene am Abend noch verstärkt wird.
Tanka-Auswahl August 2013
Von mal zu mal
verdustern Deine Nachbarn
den Besuch, Vater
so mancher neue Grabstein
trägt schon mein Geburtsdatum
– Valeria Barouch
ich höre es rauschen
unter den sternen
das weltenmeer…
in meinem blut
hör ich es auch
– Ruth Guggenmos-Walter
Wie ein Zauberstab
lässt ein Sonnenstrahl um mich
Partikel glitzern
heut’ morgen mag ich glauben
dass wir aus Sternenstaub sind
– Valeria Barouch
einmal
im Paradies
Schlange sein
alle Windungen wagen
und dann – sich häuten können
– Ilse Jacobson
Baugelände –
Katze und Mond als ob sie
Totenwacht hielten
morgen holt der Greifer
das alte Haus
– Valeria Barouch
kein Vogel singt
auf dem KZ-Gelände
das Haus der Stille
umrankt eine Mauer
blühender Brombeersträucher
– Silvia Kempen
Geflüsterte Worte
zum Abschied
der Sohn zieht nun
in die Welt
einer anderen Frau
– Christa Beau
Ostwind
auf den Spuren unserer
Vergangenheit
die alten Bäume hörten
Anne Franks Lachen
– Silvia Kempen
eine Fliege,
die gegen das Fenster
stößt und stößt –
an manchen Tagen scheint
mein Leben so zu sein
– Tony Böhle
laut Wetterbericht
ein sommerlicher Tag
doch am Ende
zieht ein Gewitter auf
zwischen dem Liebespaar
– Silvia Kempen
Schwere Tritte
auf der Treppe. Sucht mich
mein Alptraum heim?
Die Tritte werden leiser.
Wir haben Vollmond.
– Gerald Böhnel
bei den Bruchweiden
unsere Seelen
berühren
eine
andere Dimension
– Ramona Linke
Der Wasserfall
lange
bevor ich ihn sehe
sein Klang hellt
das Grau der Felsen auf
– Reiner Bonack
Kurische Nehrung...
unser Boot teilt das Fließen
des Lichts
traumverloren atme ich
dein Schweigen
– Ramona Linke
Der Schrecken –
nicht digitalisierbar
Ins Gedächtnis schreibt sich
die verwitternde Geschichte
des Orts
– Reiner Bonack
Kurische Nehrung...
unser Boot teilt das Fließen
des Lichts
traumverloren atme ich
dein Schweigen
– Ramona Linke
letzte nacht
des jahres ich versuche
wach zu bleiben
eingerollt in
einen flokati
– Ralf Bröker
Nach dem Gewitter
eine Gedankenpause
auf der Bank am See
beobachte die Schwäne
sie strahlen in der Sonne
– Andrea Naß
4:49
das licht der nachttischlampe
besteht im rauschen
mein zerwühltes kissen birgt
die farbe deiner lippen
– Ralf Bröker
Zustellung
Dich zur Weißglut gebracht.
Einfach warten.
Die Asche kommt
per Post.
– Angelica Seithe
Aus dem Himmel fällt Laub.
Ich lausche dem Rauschen des Windes,
Farbenwehen um mich.
Mein Atem ist weiß geblieben,
bisher.
– Volker Friebel
Zwei Vögel
mit bedächtigem Flügelschlag
als tasteten sie
den Himmel ab
nach einem Nest
– Angelica Seithe
In den Wipfeln das Rauschen
ist tiefer geworden. Eine Matte, blau
wie der Himmel von gestern,
liegt mitten im
gefallenen Laub.
– Volker Friebel
Pflaumenblüten
dem Morgen aufgehaucht
mein Gesicht
zittert im Widerschein
des Flusses
– Helga Stania
gemeinderäte
hüpfen zögernd
über ihre schatten…
die nachtluft und ein falter
betreten den raum
– Ruth Guggenmos-Walter
Frostnächte
und Schauer von Schnee
meine Seele
möchte ich kleiden
in Fliederduft
– Helga Stania
Zeit
vom Friedhof zurück
such‘ ich ihr Leben
in Habseligkeiten –
ein fremdes Foto
lässt mich nicht los
die letzte Kiste:
gewickelt in Leinen
ein alter Teller
blassblaue Gravur
der Name verschwimmt
Lücke im Stammbaum
will mich erinnern –
doch beim Fragezeichen
klemmt
der Diaprojektor
lausch‘ Mutters Stimme
und folge der Fährte
zwischen den Tönen
Stolperstein –
welch fremder Klang
am Ende der Kette
verlier‘ ich den Boden
unaufhaltsam
rieselt weißer Staub –
zerbrochene Zeit
– Heike Gericke
Embryonalhaltung
Eingegraben
auf Jahre hinaus:
Menschen
angestrengt lauschend
in tiefster Finsternis
So stellte ich mir als kleines Mädchen diejenigen vor, die in den Untergrund gegangen waren lange bevor ich in Freiheit geboren wurde. Untergrund: Sicherlich bedeutete das ein Leben in kalter Erde, jede Bewegung ein Verrat. Sofern man sich überhaupt bewegen konnte. Die Stiefel des Feindes dort oben hören, spüren, wie das Wasser von unterm Meeresspiegel hochdrückt. Dunkles Wasser, Zeichentusche verschüttet über eine unbeholfene Skizze, wo sie gesichtslose Menschen ertränkt.
Nachts übte ich Stillhalten. Stundenlang starrte ich ins Dunkel, versuchte keine Gespenster auf den Plan zu rufen. Sie versäumten ihren Auftritt nie.
In Kriegszeiten wäre ich also nutzlos. Um weitere Ängste zu beruhigen, sagte ich mir, die Leute seien gewiss in den Tulpenfeldern in den Untergrund gegangen. Dort unten versteckt, hätten sie sich wenigstens für eine Weile über ihren Hunger hinwegtäuschen können. Als es nichts anderes mehr gab, aßen sie Tulpen – erzählte man sich das nicht wieder und wieder?
Und daher ein anderes Bild, nie gemalt, aber hätte ich es angefangen, dann in Wachsmalkreide. Ein wildes Durcheinander von Ocker, Siena und blassen Fleischfarben verschmiert mit einer dicken Schicht Schwarz. Leg eine richtig dicke Schicht drüber. Nimm ein kleines Messer, oder kratz mit deinen Nägeln da und da etwas ab, leg frei, was sich darunter verbirgt:
splitternackt
zusammengekauert
Männer, Frauen
klammern sich an Zwiebeln
ganz wie an einer Brust
Diese bizarren Bilder… Meinen Geistern überlassen von Erwachsenen, die den ihren zu entkommen suchten, brachte ich alles durcheinander. Aber ich habe genug gelesen, es zu entwirren, und genug gesehen, damit ich weiß: Nichts ist so grotesk, dass es nicht geschehen könnte. Wahrscheinlich spitzt gerade jetzt irgendwo irgendein Junge seine Ohren, fragt sich, wann er den Graben, in dem er zwischen den Seinen hingeworfen liegt, sicher verlassen kann. Ganz zu schweigen von denen, die nicht wieder aufstehen werden, den Millionen, die sich an nichts klammern konnten bevor sie in Rauch endeten.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die Erde zugleich als Grab und als Schoß betrachtete, wo sie das Leben doch nach Belieben verschlang und ausspuckte. Oder habe ich mir das erst später zurechtgelegt? Ein Farbfoto zeigt mich mit den Nachbarkindern in einem behelfsmäßigen Sandkasten. Beachte den Ernst unseres Spiels, ab und an unterbrochen von aufgeregtem Geschrei, wenn eine Schaufel auf etwas Festes trifft. Sieh, wie unsere Gesichter in weniger glückliche aus der Zeitung von heute oder morgen übergehen:
für jene Kinder
und deren Kinder ebenso
jeder Kiesel
ein Wunder, jeder Stein
ein Blindgänger
Und während ein Foto vergilbt und dabei nicht nur die Farben einer Szene verfälscht, gibt es da dieses innere Bild, so deutlich und scharf wie man es sich nur wünschen kann: Unsere Lehrerin, die für jedes Geburtstagskind die flatternde Fahne an die nasse Tafel malt. Sieh, wie das Rot, Weiß und Blau aufscheinen sobald die Tafel abtrocknet, wie ihre Hand feinsäuberlich einen Namen dazuschreibt, und hinter diesen eine Zahl für ebenso viele Jahre in Freiheit.
Einmal im Jahr schrieb sie meinen Namen an. Ich stieg auf einen kleinen, mit Girlanden geschmückten Stuhl; der singenden Klasse zugewandt trieb mir mein gemischtes Blut die Röte ins Gesicht.
Das kleine Mädchen, das ich war, schämt sich noch immer seiner nichtigen Ängste. Nutzlos, sogar in Friedenszeit! Wie eine ältere und weisere Schwester lasse ich sie in mir zusammenkauern bis sie bereit ist, sich wieder aufzurichten. Aber die zahllosen Kinder, die seitdem viel schwereres Leid erfuhren – wer wird ihre Gespenster vertreiben?
tief rot
tönen Mohnblumen den Wind –
wie lange wohl
muss man ein Herz färben
bis es sich wandelt?
– Ingrid Kunschke
Erstveröffentlichung als "Foetal Curl" in Modern Haibun & Tanka Prose, herausgegeben von Jeffrey Woodward. Nr. 2 – Baltimore, Maryland: Modern English Tanka Press, 2009, S. 74-75. Übersetzung: Ingrid Kunschke.
nächste Ausgabe
Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 01. November 2013. Der Einsendeschluss ist der 15. Oktober 2013.