Ausgabe August 2021 - Einunddreißig

Einunddreißig
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Ausgabe Nr. 34 August 2021

Tanka-Bilder / Foto-Tanka
  • Sommergrippe (Teil 1) - eine Tanka-Bilder-Sequenz
    (Tony Böhle & Beate Conrad)
  • 77 Jahre (Paul Bernhard)
  • Kater (Gabriele Hartmann)

Tanka-Prosastücke

Tanka-Sequenzen

Mitteilungen

Tony Böhle
Editorial

Wer in den letzten Wochen die Nachrichten verfolgt hat, konnte sich den Berichten über die Olympischen Spiele 2020 kaum entziehen. Und ja, Sie haben richtig gelesen, die Olympischen Spiele 2020, nicht 2021, auch wenn sie in diesem Jahr tatsächlich stattfinden. Es handelt sich ja schließlich "nur" um eine Verschiebung; einmal ganz abgesehen davon, dass schon lange vorher die entsprechenden Logos auf allerhand offizirllr Ausstattungen und zahllose Merchandise-Artikel gedruckt wurden. Anders als die ebenfalls in diesem Jahr nachgeholten Fußball-EM, scheinen die Spiele von Tokyo unter einem weniger glücklichen Stern gestanden zu haben, denn diese mussten vor größtenteils leeren Rängen stattfinden. Eine Absage auf Raten: erst keine ausländischen Zuschauer, dann aufgrund der aktuellen Corona-Infektionszahlen auch ohne einheimische Beobachter. Nur die Presse durfte dabei sein und für uns Außenstehende Stadion-Luft schnappen – freilich auch durch eine Maske gefiltert. Welche gespenstische Atmosphäre "Geisterspiele" hinterlassen, ist mittlerweile aus der Fußball Bundesliga zur Genüge bekannt. Fehlen einmal Fangesänge, Applaus und gelegentliche Pfiffe, kommt keine wirkliche Arena-Stimmung auf. Darüber können auch die buntgewürfelten Farben der Sitze kaum hinweg täuschen, welche die fehlenden Besucher optisch weniger offensichtlich machen soll.
Doch nicht nur für die Zuschauer sind es besondere Spiele. Während sicherlich die wenigsten der weltweit Millionen Zuschauer live in den Sportstätten dabei gewesen wären und diese ohnehin nur im Fernsehen verfolgt hätten, treten die Sportler in ihren Disziplinen vor leeren Rängen an. Wie mag sich das wohl anfühlen?
Ein Gefühl, das uns als Tanka-Autorinnen und -Autoren vielleicht näher steht, wie es den ersten Anschein hat. Die Erfahrung des fehlenden Publikums in Corona-Zeiten kennen sicherlich auch viele Autoren. Lesungen, auf die lange hingearbeitet wurde, werden abgesagt oder können nur noch online stattfinden. Ein schwacher Ersatz, denn was nach dem eigentlichen Programm noch an Diskussionen und Gespräche stattfindet, ist ein ebenso wesentlicher Teil solcher Veranstaltungen. So treiben auch wir unseren "Sport" oft vor einem quasi leeren Stadion.
Am Ende können auch wir uns nur mit dem alten olympischen Motto trösten: Dabeisein ist alles! Wirklich alles? Nun ja, vielleicht nicht ganz... So lade ich alle literarischen Athleten, Fans und Beobachter zur August-Ausgabe von Einunddreißig ein!

Valeria Barouch
Das Tanka international Teil XXII - Patricia Prime

Patricia Prime ist Mitherausgeberin des neuseeländischen Haiku-Magazins Kokako. Sie gehörte während vielen Jahren zur Redaktion von Haibun Today und ist gegenwärtig verantwortlich für die Rubrik Rezensionen/Interviews von Contemporary Haibun Online. Neben Lyrik, Artikeln und Buchbesprechungen schreibt Patricia auch Renga, Kettengedichte, Tankaprosa, Haibun, Cherita und Limericks. Gemeinsam mit Beverley George und Amelia Fielden hat sie eine Tanka Anthologie, 100 Tanka by 100 Poets, mit Autoren aus Neuseeland und Australien veröffentlicht. Sie war auch an der Herausgabe von A Vast Sky: An Anthology of Contemporary World Haiku beteiligt. Mit der französischen Autorin Giselle Maya entstand eine Sammlung von gemeinsamen Haibun und Tanka-Sequenzen unter dem Titel Shizuku. Die Zusammenarbeit mit Catherine Mair, Neuseeland, brachte zahlreiche kleine Haiku und Tanka Chapbooks hervor. Unter dem Titel The Way of All Things erschien 2019 in Indien eine Sammlung von Patricias Gedichten.

on the garden swing
a spider anchors its web
one by one
children’s fingers pick
the sticky strands

An der Gartenschaukel
ankert eine Spinne ihr Netz
einen nach dem andern
pflücken Kinderfinger
die klebrigen Fäden

clarity of tea
combined with dried meat
on a Beijing train
heading north through a storm
rain pelting the windows

Klarheit von Tee
zusammen mit Trockenfleisch
im Zug von Peking
nordwärts durch einen Sturm
Regen prasselt gegen das Fenster

cool winter morning
a breeze shakes the trees
while I sit writing
poems, emails and letters
in the warmth of my study

kalter Wintermorgen
die Bäume zittern in der Brise
ich sitze hier und schreibe
Gedichte, Mails und Briefe
in der Wärme meines Zimmers

summer’s end
all the colours faded
from the garden
apart for a pot of daisies
on the damp veranda

Ende des Sommers
alle Farben sind im Garten
verblasst
außer im Topf Margeriten
auf der feuchten Veranda

on a gloomy morning
the promise of sunshine
as a ray of light
appears on the forsythia
dappling its silken leaves

an einem trostlosen Morgen
die Verheißung von Sonnenschein
in einem Lichtstrahl
erscheint auf dem Goldflieder
besprenkelt seine seidenen Blätter

trying to forget
every plant in the garden
shaking in the breeze
I walk to the window
closing it against the cold

bemüht zu vergessen
all die Pflanzen im Garten
im Winde zitternd
gehe ich zum Fenster
die Kälte auszuschließen

in a country town
a children’s graveyard
on the hillside
the tiny graves covered
with dolls and teddy bears

in einer Provinzstadt
ein Kinderfriedhof
auf dem Hügel
die winzigen Gräber bedeckt
mit Puppen und Teddybären

writing sympathies
the magnolia covered
with blooms
beckons me to the window
to admire its beauty

beim Beileid Schreiben
die Magnolie von Blüten
eingehüllt
winkt mich zum Fenster
um ihre Schönheit zu bewundern

after the rainfall
diamonds on grass blades
catch my eye
bands of heavy black clouds
signal a coming storm

nach dem Regen
Diamanten auf Gräsern
fallen mir ins Auge
schwere schwarze Wolkenbänder
melden einen nahenden Sturm

walking in the park
we see beneath a bridge
a swan preening
her white plumage
among her six cygnets

beim Wandern im Park
sehen wir unter einer Brücke
eine Schwänin
ihr weißes Gefieder putzend
inmitten ihrer sechs Küken

Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmirgung der Autorin.

Valeria Barouch & Tony Böhle
Tanka der Redaktionsmitglieder

im Sportgeschäft
prüfe ich Rucksäcke
nach Tauglichkeit
für Abenteuer die nur
Träume bleiben
               – Valeria Barouch

Unausgesprochen
steht etwas im Raum zwischen
dir  und    mir.
Als wären wir eines von
Manet's schweigenden Pärchen.
               – Tony Böhle

Tief drinnen
gibt es sie diese Tonwelten
die ich singen möchte
nur meine Stimmbänder
reichen nicht bis ins Herz

               – Valeria Barouch

Die Geste,
mit der du Kaffee bestellst,
ist vorgetragen
in perfektem Italienisch...
Es ist zu einfach, dich zu mögen!
               – Tony Böhle

Valeria Barouch & Tony Böhle
Tanka-Auswahl August 2021

Aus den Einsendungen, die zwischen dem 1. April und dem 30. Juni 2021 eingereicht wurden, hat die Jury, bestehend aus Valeria Barouch und Tony Böhle, für die August-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 40 Tanka getroffen. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Die Jurymitglieder haben jeweils ein Tanka, das sie besonders angesprochen hat, hervorgehoben und kommentiert.

Valeria Barouch
Ein Tanka, die mich besonders anspricht

verlassen
sitzen wir hier knabbern
Erdnüsse und
lassen unsere Monologe
ineinander poltern
               – Christof Blumentrath
 
Dieses Tanka musste ich mehrmals lesen, um daran Gefallen zu finden. Ich sah im ersten Moment darin Widersprüche, aber gerade diese  Kontraste hielten mein Interesse wach.
 
 
"Wir sitzen hier und knabbern Erdnüsse" kann zwei oder mehr Personen umfassen und auf ein geselliges Treffen anspielen, wäre nicht das knappe "verlassen", das einleitend seinen Schatten über die Versammelten wirft. Ob "wir" zu Hause vor dem Fernseher sitzt oder sich auf einer Party befindet, spielt keine Rolle. In beiden Fällen ist nicht die Anzahl der Anwesenden maßgebend, sondern das was abwesend ist. Das kann sowohl eine Person, wie auch eine gewünschte Stimmung sein. Wenn man mit seinem Umfeld nicht harmoniert, kann man zu Robinson auf einer einsamen Insel werden und das auch mitten in einer festlichen Menge. Und wenn Robinson keinen Freitag hat, mit dem er Gespräche führen kann, dann hält er Selbstgespräche, sei es um mit seinem Schicksal zu hadern, oder einfach nur um eine Stimme zu hören.
 
Zu den Erdnüssen gesellen sich in Vers 4 und 5 Monologe, die ineinander poltern. Das Verb "poltern" tönt hart und im ersten Moment unpassend, wohl vor allem deshalb, weil wir fälschlicherweise  beim Wort Monolog automatisch an "monoton" denken. Selbstgespräche können in der Tat oft eintönig und banal sein. Sie können sich aber auch als emotionsgeladen, explosiv, kämpferisch, engagiert, usw. erweisen. Poltern heißt nicht nur mit Fäusten gegen eine Tür oder auf den Tisch schlagen,  sondern hat auch so gegenteilige Synonyme wie schimpfen, tadeln, zanken, brüllen, aufbegehren, amüsieren, feiern - die Liste ist lang.
 
Dieses Verb wurde zweifelsohne mit Bedacht gewählt, um einen dramatischen Effekt zu erzielen, wie auch das im Theater gebräuchliche Wort "Monolog" anstelle von Selbstgespräch. Beide Worte harmonieren zusammen mit dem Vokal "o".
 
Auch das "ineinander" wirft Fragen auf. Ist es eine Karambolage von Worten, die sich auf ein Drama zuspitzt oder eine Anspielung, dass  aus den Monologen vielleicht doch noch ein Dialog wird?
 
Der Text lässt keinen Schluss zu über das "Wer, Wo, Warum" und so können sich in unserem Kopfkino die verschiedensten Szenarien entfalten.

Tony Böhle
Ein Tanka, die mich besonders anspricht

am See
die Kieselsteine
hüpfen lassen
wieder und wieder
höre ich deine Vorwürfe
               – Silvia Kempen
Steinchen über das Wasser flitschen zu lassen ist eine Herausforderung, der ich mich schon als Kind gern gestellt habe. Die ganze Übung ist aber gar nicht so einfach, wie es zunächst den Anschein hat: Zuerst braucht man einen paasenden Stein, am besten einen schönen flachen, und dann den richtigen Schwung aus dem Handgelenk. Das alles braucht natürlich etwas Training. Die Steine hüpfen zu lassen, kann auf einem gemeinsamen Spatziergang am Wasser auch zu einem kleinen Wettstreit werden. Aber auch wenn man allein ist, kann man gegen sich selbst antreten oder einfach seine Gedanken vergessen.
Vielleicht nimmt Silvia Kempens Tanka hier Bezug auf einen solchen Spaziergang an einen See, wie es scheint alleine. Wie schön wäre es wohl gerade für das lyrische Ich, die Gedanken - wohl an einen Streit oder eine Auseinandersetzung - zu vergessen. Dies impliziert zumindest das Wort "Vorwürfe" am Ende des Tanka. "Die Kieselsteine / hüpfen lassen" führt aber interessanterweise zum genauen Gegenteil: Statt den Kopf frei zu bekommen, scheinen die Vorwürfe aus dem vermeintlichen Streit wie das Aufsetzen der Steinchen auf dem Wasser immer wieder zu kehren. Was der Text hier vielleicht impliziert ohne es auszusprechen, ist der Punkt, dass die Kieselsteine am Ende immer auf dem Grund des Sees landen - ganz gleich wie oft sie hüpfen und manchmal auch mit einem lauten PLOP.

Valeria Barouch & Tony Böhle (Auswahl)
Die Tanka-Auswahl

du schaust mir
über die Schulter
nach Bearbeitung
mit Photoshop bleibe ich
ein alter Mann

                – Christof Blumentrath

mein nächtlicher Gast…
was er hinterließ
am Morgen?
nichts – als den Abdruck
seiner Zähne im Käse

                – Gabriele Hartmann

verlassen
sitzen wir hier knabbern
Erdnüsse und
lassen unsere Monologe
ineinander poltern

                – Christof Blumentrath

erst beim Schreiben
einer Postkarte
bemerke ich
den Ruf der Amseln
das Verblühen der Bäume

                – Birgit Heid

TAG OHNE LIED, OHNE WORTE
Sah nur den Wind
im Baum vor dem Fenster

Erst in der Nacht
sang ein Vogel in meinem Kopf

                – Reiner Bonack

die Portraitaufnahme
einer Weinbergschnecke
für eine freie Stelle
an der Wand
über dem Schreibtisch

                – Birgit Heid

KINDHEIT, DIE MAGIE
der Worte, abends,
neben Hof und Stall
Und am Rand der Heide sang
der Ziegenmelker laut sein Lied

                – Reiner Bonack

 

ein Grad plus,
doch die Sonne
wärmt mich
und die vom Ritzel
gefallene Fahrradkette

                – Birgit Heid

Sonntag im Bett
im Nebenbei der Bilder erwacht
mein inneres Kind
bleibt hängen bei der Maus
und staunt an deiner Schulter

                – Ralf Bröker

am See
die Kieselsteine
hüpfen lassen
wieder und wieder
höre ich deine Vorwürfe

                – Silvia Kempen

im offenen Kofferraum
sitzt du und liest
was der März-Wind schreibt
wie oft hast du das getan
und jetzt musst du geh’n

                – Ralf Bröker

 

wie sie fallen
die Kirschblütenblätter
auf die Erde
zum letzten Mal lege ich
Mutters Goldkette an

                – Silvia Kempen

Farben
der Wiederkehr
der Sommer schmerzt mich
in der Brust
wie eine alte Liebe

                – Stefanie Bucifal

 

ich zögere
den Pinsel aufzusetzen
auf's weiße Papier
und denke an gestern
den großen vollen Mond

                – Silvia Kempen

diese Trägheit
in der Landschaft, diese Schwere
im üppigen Grün
alles rückt
auf mich zu

                – Stefanie Bucifal

von bunten Schuhen
träumte ich und von dem Weg
ohne Wiederkehr
doch nun trällert die Amsel
ihr vertrautes Morgenlied

                – Eva Limbach

mitten in der Stadt
der Dom mit den zwei Türmen
und grünem Kupferdach
zwar besuche ich ihn nie,
doch gehört er dazu

                – Pitt Büerken

nach all den Jahren
ist es nun doch in die
Brüche gegangen
das Schneckenhaus in das ich
mich verkriechen wollte

                – Eva Limbach

graue Materie
die gesetzlose Landschaft
eines Albtraumes
weite Stille wie sie wohl
wortreicher kaum sein könnte

                – Beate Conrad

heimlich und leise
hast du dich in mein
Vertrauen geschlichen
dabei wusste ich längst dass
du ein Schmetterling bist

                – Eva Limbach

Glänzend zwei Tassen
neben dem Wasserkühler
auch Milch und Zucker
Doch kaum ein Gespräch heute
kann die Arbeit versüßen.

                – Beate Conrad

Träge dicke Wolken
schwarz und grau
vor fahler Himmelswand
wie angenagelt
in Erwartung sich zu öffnen

                – Erika Uhlmann

diese Mülldeponie
wird irgendwann
ein Meer sein
die Möwen
kreisen schon heute

                – Frank Dietrich

Kurz nach sieben im Bahnhof.
Noch nicht ganz ausgeschlafen.
Auf der Rolltreppe
die flüchtige Begegnung
mit meiner Traumfrau.

                – Wolfgang Rödig

 

stürmische Brandung
ein Teil von mir
ist Wind
ein Teil Wasser
der Rest ist Fels

                – Frank Dietrich

Sommernachtsfete
als Lärmbelästigung.
Plötzlich dieses Musikstück.
Einer meiner Lieblingssongs
vor allzu langer Zeit

                – Wolfgang Rödig

 

im Bernstein
der erstarrte Flügelschlag
eines Schmetterlings
all die Dinge
die ich hätte sein können

                – Frank Dietrich

Wer es könnte –
sich in die Abendröte
hüllen
und so
vor ihn hintreten

                – Angelica Seithe

zu müde
um noch einmal aufzustehen
und sie aufzuschreiben
die Gedanken
von der anderen Seite des Schlafs

                – Frank Dietrich

Wolkenwand an
Wolkenwand schiebt heran
im Schneegestöber
die Geduld der Blüten und
hinter blanker Scheibe wir

                – Angelica Seithe

die Schnecke
zieht eine Spur
aus Mondlicht
mir scheint sie ist
auf dem Weg zu dir

                – Frank Dietrich

 

Kälte im Mai
die blühende Magnolie
noch immer leuchtend
Liebe die sich nicht verzehrt
in der Erfüllung

                – Angelica Seithe

Am Morgen
suche ich die Jacke vergeblich
im taukühlen Garten
doch da liegt noch
die zerlesene Zeitung

                – Claus-Detlef Großmann

Alterssünden
ich ertappe mich dabei
dass ich überlege
was noch zu erledigen
und verliere alle Zeit

                – Erika Uhlmann

donnergrollen…
die schwarze kerze
ganz hinten in der schublade
festgeklebt
das grollen kommt näher…

                – Ruth Guggenmos-Walter

 

Träge dicke Wolken
schwarz und grau
vor fahler Himmelswand
wie angenagelt
in Erwartung sich zu öffnen

                – Erika Uhlmann

mit einem mal
wandelt sich das licht
in meinem zimmer:
wie licht des 18. jahrhunderts
so kommt es mir vor…

                – Ruth Guggenmos-Walter

 

vor der Ampel
sehe ich im Rückspiegel
pausenfüllend
ein küssendes Pärchen
im Bremslicht

                – Friedrich Winzer

 

eine amsel
singt das lied
der toten amsel
die an der scheibe
zerschellt ist…

                – Ruth Guggenmos-Walter

 

Abendwanderung
von der Sonne gezogen
den Berg hinauf
über die letzte Steilwand
der Schatten

                – Friedrich Winzer

 

Tony Böhle & Beate Conrad
Sommergrippe

Tanka: Tony Böhle, Gestaltung: Beate Conrad. Zum Vergrößern die Bilder bitte anklicken!

Der zweite Teil der Tanka-Bilder-Sequenz folgt in der nächsten Ausgabe.

Beate Conrad
Eine Serie von Fremden

"Ich möchte Sie abends in Ihrem der Straße zugewandten Zimmer fotografieren. Mit etwas Abstand zum Fenster auf der Straße wird meine Kamera aufgestellt sein. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, fotografiert zu werden, stellen Sie sich bitte in den Raum und schauen Sie 10 Minuten lang durch das Fenster in die Kamera... Ich werde  n i c h t  an Ihre Tür klopfen, um Sie zu treffen. Wir werden einander fremd bleiben."

   Im Fensterrahmen
   halbdunkel eine Gestalt
   ein richtiger Mensch
   Gehirnzellen wechseln von
   Analyse zu Aufnahme

Der oben zitierte Text neben einer Serie von Bildern aus der Begleitbroschüre klingt fast wie ein unmoralisches Angebot für Rotlichtfotografie. Es handelt sich jedoch um einen Auszug aus anonymen Briefen von Shizuka Yokomizo an Erdgeschossbewohner in ganz England. Ich schreite durch die Galerie und betrachte die Fotografien, wo – ganz anders als bei der üblichen Portraitfotografie – Objekt und Betrachter auf größtmöglicher Distanz bleiben sollen. Die Ergebnisse zeigen verblüffend

   wie eine Lücke
   graphisch sichtbar gemacht
   zwischen dir und mir
   eine Gegenseitigkeit
   sich anonym ins Licht setzt

   diese Beziehung
   unerbittlich im Blick
   des Kameraauges
   so stark die Bestätigung
   auch der eignen Existenz


Christof Blumentrath
Neunzig

Das Klock-Klock verrät ihn. Mein Nachbar trägt diese traditionellen Holzschuhe Klumpen, wie man sie hier im westlichen Münsterland nahe der niederländischen Grenze immer noch kennt.
Er geht durchs schief hängende Gartentor zur Holzbank, zerreibt ein Salbeiblatt zwischen den Fingern und schnuppert.
"Immer fleißig!", seine Begrüssung.
Ich hocke unter einem Rhododendron und zupfe am Beikraut.
"Wat is?"
"Heute Nachmittag will ich Frühkartoffeln pflanzen."
Wir trinken einen Kaffee, erörtern noch die aktuelle Wetterlage und dann sind wir verabredet. Gleich nach dem Essen. Für einen Mittagsschlaf ist dieser Mann nicht zu haben. Neulich meinte er, er habe keine Zeit zu verlieren.
Im September feiert er seinen neunzigsten Geburtstag.

   zuletzt hab ich dich
   zwischen den Rosen geseh’n
   deinen weißen Kopf
   weit in den Nacken gelegt
   im Zwiegespräch mit Gott


Gabriele Hartmann
Sicher

  er liebt mich
   – da bin ich sicher –

denn als ich gerade auf einem wackeligen Stuhl stand, mich aus dem Speicherfenster beugte, um dessen Rahmen von außen zu lasieren, hielt er mich ganz fest umschlungen

   und weiß doch nicht
   zu deuten sein: "früher
   waren meine Arme länger"


Horst Ludwig
Tanka-Prosa

Als mein großer Bruder von der Arbeit zurückkam, war er erstaunt, wo ich denn noch Kornblumen gefunden hatte, die jetzt in einer Vase den Wohnzimmertisch schmückten. Wo ich wohne, in der Weite des amerikanischen Mittelwestens, kann man im Baugeschäft deren Samen in Tütchen kaufen, für den eigenen Garten.

  Zyanen am Rand -
  Hafer gänzlich unkrautlos
  fast reif zur Ernte.
  Die Bauern heute wissen,
  was alles den Markt bestimmt.


Stefanie Bucifal
Verwandte (Tanka-Sequenz)


  Zoo-Besuch
  noch immer tigert
  Rilkes Panther
  im Kreis
  im Kreis

  wie ich
  verbirgt er unterm Schwarz
  ein andres Fell
  graues Haar
  die goldgelben Flecken

  am Streichelgehege
  lehr man mich Tugend
  Geduld
  der Esel weigert sich
  mich anzusehen



  Kuriositäten
  Beluga-Wale
  betrachten uns durchs Glas
  uns trennen
  Elemente

  am Gorilla-Gehege
  diese Ähnlichkeit
  sagt eine Frau
  ich aber schätze
  die Unterschiede

  Besucher-Durchsage
  in Kürze schließt der Zoo
  wir lassen sie zurück
  kehren heim
  in unsre Käfige


Rüdiger Jung
Rezension zu Krähensang von Rainer Hesse

Ein Band Gedichte. Die meisten in der Form, mit der sich Rainer Hesse seit Jahrzehnten kreativ auseinandersetzt: dem Tanka. Das eindrückliche Titelbild: ein schneebedeckter kahler Baum; daneben eine große Schar von Krähen. Der Titel “Krähensang“ mag als vermeintliche Coincidentia oppositorum im ersten Moment irritieren. Die Ornithologie indes lässt keinen Zweifel: tatsächlich zählen die Krähen zu den Singvögeln. Und diese “Sänger" machen Stimmung - in sehr runden, atmosphärisch dichten Kurzgedichten:

 
  Auf den Gräbern Schnee.
  In der Abenddämmerung ,
  der kleine Friedhof.
  Auf luftiger Höhe dort
  ein Schlafplatz für die Krähen. (S. 9)

 
  Lärmend ziehen Krähen
  in der Abenddämmerung
  über brache Felder hin,
  fernen Nachtquartieren zu
  bis ihr Ruf verstummt. (S. 25)

 
Gewiss: die Jahreszeiten, die wir mit Rabenvögeln assoziieren, sind am ehesten Herbst und Winter. Aber weder sind sie "Totenvögel" noch "Rabeneltern". Der Autor fasst diese Art tradierter Vorurteile präzise zusammen: "Ein schlechtes Zeugnis / für den Homo sapiens!" (S. 17) Auch wo nicht die Krähen den Ton angeben, sind und bleiben Hesses Tanka geprägt von einem innigen impressionistischen Naturwahrnehmen:

 
  An der Alten Gracht
  kahle Bäume schwarz und stumm.
  Schutt versperrt den Weg.
  Nur junge Katzen streunen
  im trüben Laternenlicht. (5.24)

 
  Lautlos Fischreiher
  an den Ufern der Seen
  hoch in den Föhren.
  Unten stehen Schilf und Rohr
  im dichten Abendnebel. (S. 31)

 
  Im Morgengrauen,
  noch vor der ersten Amsel,
  höre ich ihn schon,
  den Regen, der von Traufen
  auf das Kopfsteinpflaster platscht. (S. 33)

 
  wie verlassen liegt
  die Insel noch von See her!
  Ein hechelnder Wind
  kämmt streng das Haar der Dünen,
  durch fahles, zottiges Gras. (S. 40)

 
Auch wo er nicht die Tanka-Form nutzt, erweist sich Hesse als stilistischer Virtuose. Etwa in folgendem Doppel-Haiku:

 
  Bei offener Tür
  im Schein der kleinen Lampe
  über den Büchern -

 
  Der Duft nach Erde
  und das Geräusch des Regens
  halten mich wach. (S. 14)

 
Das letzte Tanka, "Die alten Schuhe" (S. 43), greift ein symbolstarkes Bildmotiv auf, dem zumal Vincent van Gogh in der bildenden Kunst sehr eindringliche Gestaltungen gab.
 
“Weder Feind noch Freund" (S. 26) ist dem Autor in einem seiner längeren Gedichte der Tod. Er erfährt eine Entmythologisierung, eine Entkleidung von Metaphern »die immer auch Euphemismen sind. Der Dichter benennt den Tod als "Datum", als Zeitphänomen als Realität - klar und präzise. Und gibt ihm verblüffender Weise gerade so kein übermäßiges Gewicht. Die Dinge sehen und benennen als das, was sie sind - ein anderer Name für Gelassenheit.
 
Dem ganzen Facettenreichtum des Bandes ist damit noch nicht Rechnung getragen: Hesse legt Zeugnis ab von der ganzen klaustrophobischen Bedrängnis der Corona-Pandemie (S. 12), er erinnert nachdrücklich und eindringlich an die Weiße Rose (S. 18), aber auch an den Dichter und Freund Bart Mesotten (S. 22). Schließlich vergisst er bei allem "Krähensang" nicht, dem Tribut zu zollen, der Herbst und Winter mehr als nur erträglich macht: "dem Sonnenbruder Wein“ (S. 29).

Rainer Hesse: Krähensang. Literareon im utzverlag, 2021. 48 Seiten. ISBN 978-3-8316-2275-7.

Wettbewerbe, Termine und Veranstaltungen

Fujisan Tanka-Contest - Express your passion and love for Fujisan in a TANKA
Zum alljährlich stattfindenden Fuji-San-Tanka-Wettbewerb kann noch bis zum 20. September je Teilnehmer ein Tanka in englischer Sprache über den Mt. Fuji, mit Bezug zum Mt. Fuji oder Bergen allgemein eingereicht werden. Die Teilnahme ist kostenfrei. Alle weiteren Informationen zur Teilnahme, Bewertung und Verkündung der Sieger findet sich auf der nachfolgenden Webseite: http://fujisantaisho.com/index_english.html

2021 San Francisco International Competition
Die Vereinigung Haiku Poets of Northern California lädt Teilnehmer zur 2021 San Francisco International Competition herzlich ein. In den Kategorien Haiku, Senryu, Tanka und Rengay können noch bis zum 31. Oktober 2021 Beiträge eingereicht werden. Die Gewinner erwarten Geldpreise. Weitere Informationen finden sich auf der Webseite der Haiku Poets of Northern California: https://www.hpnc.org/submission-guidelines

nächste Ausgabe


Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 15. November 2021. Der Einsendeschluss ist der 30. September 2021. Für die Einsendung von Beiträgen bitte ich, die Teilnahmebedingungen zu beachten.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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