Ausgabe November 2019 - Einunddreißig

Einunddreißig
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Ausgabe Nr. 27 November 2019

Tanka-Bilder

Tanka-Prosastücke

Tanka-Sequenzen

Vermischtes

Mitteilungen

Tony Böhle

Editorial

In den letzten Jahren hat man  immer wieder von einer gespaltenen Gesellschaft gehört. Ob in politischen Fragen, zwischen Stadt und Land, Jung und Alt, Arm und Reich, Ost und West. Solche Spaltungen mag es viele geben und bisweilen reichen sie auch Jahrhunderte zurück. Manche dieser Dinge fallen uns auch erst auf, wenn wir einmal in anderen Regionen des Landes unterwegs sind. Wer kennt zum Beispiel nicht den berühmten Weißwurstäquator, als Grenze zwischen der bayrischen Esskultur und der des restlichen Landes. Oder analog dazu den "Röstigraben" zwischen der frankophonen Bevölkerung einerseits und den Deutschschweizern andererseits.
Auch in einer anderen Beziehung sind mir solche Gräben an  einigen Tagen – genauer gesagt am 11. November – wieder einmal bewusst geworden. Gilt der Start in die Karnevalszeit besonders im Rheinland als ein freudig erwarteter Feiertag, wird er im Osten der Republik eher schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Doch kann er auch in den traditionell protestantischen Gegenden durchaus seltsame Blüten treiben. In typisch preußischer Manier und Ordnungsliebe gibt es in einigen  Firmen Betriebsvereinbarungen, die regeln, an welchen Tagen Mitarbeitern ein obligatorischer Faschingspfannkuchen zusteht, unter welchen Bedingungen, und wie verfahren wird,  wenn der entsprechende Tag auf ein Wochenende fällt. Wenn das kein gelungener Narrenstreich ist? Als jemand, in dessen kulturellen Hintergrund der Karneval – oder Fasching, wie man hier sagt – nicht unbedingt beheimatet ist, betrachte ich das närrische Treiben immer mit einer Mischung aus Verwunderung und Faszination. Das Erstaunlichste scheint mir wohl dabei, wie Ausgelassenheit und Frohsinn zuverlässig nach Kalender und Uhrzeit am 11.11. um 11 Uhr 11 ausbrechen. Zugegeben, die Vorstellung sich für Sitzungen oder den Straßenkarneval zu kostümieren hat, durchaus etwas reizvolles. Für den einen mag das Verkleiden nur eine lustige Maskerade sein, für den anderen aber auch die Möglichkeit sein wirkliches Ich zu zeigen.
Vielleicht ist das Tanka auch eine Art von Karnevalskostüm, die wir bisweilen tragen. Zeigen wir darin unser wahres Gesicht, unsere wirklichen und ehrlichen Gedanken, die wir sonst nie nach außen kehren würden, oder genießen wir es eher für einen Augenblick literarisch in die Haut eines anderen zu schlüpfen? So kann es uns beim Lesen eines Tankas eventuell gelingen einen Blick auf das wirkliche Gesicht des Verfassers zu werfen – und unser eigenes noch dazu. Dies zu erfahren, möchte ich alle Leser zu einer neuen Ausgabe von Einunddreißig einladen.

Valeria Barouch

Das Tanka international Teil XV - Beverley George

Beverley George widmet sich dem Haiku seit 1997. Als Vorsitzende der Australian Haiku Society von 2006-2010, hielt sie zweimal Konferenzvorträge in Japan und 2009 war sie die Initiatorin der 4th Pacific Rim Haiku Conference in Terrigal, Australien, an der Delegierte aus sechs Ländern teilnahmen. Während sie Herausgeberin von Yellow Moon: a literary magazine for haiku and other verse war, veröffentlichte sie ebenfalls 8 Ausgaben von Young Yellow Moon für Kinder im Grundschulalter. Sie war Gründerin von Eucalypt: a tanka journal und dessen Herausgeberin während 10 Jahren (www.eucalypt.info). Zur Zeit ist sie Herausgeberin von Windfall: Australian haiku. Beverley ist Mitglied von Red Dragonflies; eine Haikugruppe, die von Vanessa Proctor geleitet wird. Sie ist ebenfalls Initiatorin von White Pebbles, einer Haiku Gruppe die an der Central Coast ansässig ist. Zweimal jährlich beruft sie Zusammenkünfte mit der Bowerbird Tanka Group ein (http://www.eucalypt.info/E-bowerbird.html).
Ihre Haiku sind in zahlreichen Publikationen erschienen und wurden in neun Sprachen übersetzt. Beverleys internationale Auszeichnungen beinhalten erste Preise für Haiku und Tanka: British Haiku Society JW Hackett Award 2003 (GB); 3. Preis Ashiya International Festa 2004 (Japan), Tanka Society of America‘s International Contest 2006, Genkissu! World Wide Hekinan Haiku Contest 2009 (Japan) und Saigyo Awards 2010 (USA). Sie erhielt den 2. Preis im The Kaji Aso Studio International Haiku Awards (USA) und im 16. Kusamakura International Haiku Competition 2011 (Kumamoto, Japan).

out there
in this war-torn world
people who
collect stamps, press flowers
gather shells at daybreak

                Simply Haiku 6 (3) 2008; Take 5 2008;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

da draußen
in der vom Krieg zerrütteten Welt
gibt es Menschen die
Marken sammeln, Blumen pressen
Muscheln suchen bei Tagesanbruch

                Simply Haiku 6 (3) 2008; Take 5 2008;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

a nurse at the clinic
a traveller on the train
sometimes we speak
our deepest truth
to those met fleetingly

                red lights 6 (1) 2010;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

eine Pflegerin im Spital
ein Reisender im Zug
manchmal teilen wir
unsere tiefsten Wahrheiten
mit den flüchtig Begegneten

                red lights 6 (1) 2010;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

half a world away
I say your name, light candles
in all the old cathedrals
their puny flame no contest
for the disease consuming you

                Presence 39 2009;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

eine halbe Welt entfernt
sag ich deinen Namen, zünde Kerzen an
in allen alten Kathedralen
Flämmchen im ungleichen Kampf
mit dem Leiden das dich verzehrt

                Presence 39 2009;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

strictures of childhood
carried through life
barriers
that keep you safe
and those that break your heart

                Magnapoets  7  2011;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

Mangel der Kindheit
durchs Leben getragen
Schranken
die dich bewahren und
solche die dein Herz brechen

                Magnapoets  7  2011;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

from Japan
this tiny wildflower vase
on my desk
takes me outdoors to a bud,
a leaf, a grass, a feather

                Ribbons 6 (4) 2010;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

aus Japan
diese winzige Vase mit Wildblumen
auf meinem Schreibtisch
führt mich hinaus zu einer Knospe,
einem Blatt, einem Gras, einer Feder

                Ribbons 6 (4) 2010;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

birdsong trapped
in cloistered silence,
at mountain dusk
does peace come only
at the price of loneliness?

                Presence 33 2007;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

klösterliche Stille
umschließt den Vogelgesang
als es dämmert am Berg
ist Einsamkeit immer
der Preis für Harmonie?

                Presence 33 2007;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

printing photographs
from a hometown visit
I locate the graves
of my divorced parents
on separate memory cards

                Gusts 7 Spring/Summer 2007;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

ich drucke Fotos aus
vom Besuch meiner Heimatstadt
und finde die Gräber
meiner geschiedenen Eltern
auf verschiedenen Speicherkarten

                Gusts 7 Spring/Summer 2007;

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

slicing a lemon
with my sharpest knife
seeds remain in place
segments hold their structure
despite my child's divorce

                2nd place 6th International

                Tanka Festival-Competition

                (Japan Times Award);

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

Zitrone in Scheiben geschnitten
mit meinem schärfsten Messer
Kerne verharren an ihrem Platz
Segmente erhalten ihre Struktur
trotz meines Kindes Scheidung

                2nd place 6th International

                Tanka Festival-Competition

                (Japan Times Award);

                This Pinging Hail-Eucalypt, 2012

a lightning strike
splits our old apple tree
I never dreamed
the death that parted us
would not be one of ours

                1st Prize Tanka Society of America’s

                annual international contest 2006;

                empty garden Yellow Moon 2006, 2013

ein Blitzschlag
spaltet unseren alten Apfelbaum
nie hätte ich mir träumen lassen
der Tod, der uns getrennt hat
würde nicht einer von uns sein

                1st Prize Tanka Society of America’s

                annual international contest 2006;

                empty garden Yellow Moon 2006, 2013

café talk for three
a four-hour sanctuary
one old friend
one newly met
... my spirits rise

                Eucalypt 26, 2019

Kaffeegeplauder für drei
eine vierstündige Zuflucht
eine langjährige Freundin
eine neu kennengelernte
… meine Stimmung hebt sich

                Eucalypt 26, 2019

 
Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka der Redaktionsmitglieder

das gleiche Rezept
doch schmeckte es süßer
das Gebäck damals
aus Mutters versteckter Dose
mit der Würze des Verbotenen
             – Valeria Barouch

unser Abschied wirkt
heut‘ Abend wie die Szene
eines Spielfilms…
dazu trägst du – ganz stilecht
– den Wind in deinen Haaren
             – Tony Böhle

Guten Tag!
der Blick schweift gleichgültig
über mich hinweg
als wärs nur Hundebellen
zubeissen möchte ich da
             – Valeria Barouch

vergessen will ich
den verdorrten Ficus in
der Ecke deines Zimmers
und dir voll vertrauen
bei dem, was du versprichst
            – Tony Böhle

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka-Auswahl November 2019

Aus den Einsendungen, die zwischen dem 1. August und dem 30. September 2019 eingereicht wurden, hat die Jury bestehend aus Valeria Barouch und Tony Böhle für die November-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 21 Tanka getroffen. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Die Jurymitglieder haben jeweils ein Tanka, das sie besonders angesprochen hat, hervorgehoben und kommentiert.

Valeria Barouch

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

betrunken
die Laterne im Weg
geht er zu Boden –
im Unfallbericht vermerkt:
Ihr Leuchten ungebrochen!

               – Dyrk-Olaf Schreiber

Auf den ersten Blick ist man versucht diesen Text als unwahrscheinlich abzustempeln. In den Segmenten 1 bis 4 nehmen wir Kenntnis von einem Passanten, der so unsanft mit einer Straßenlaterne Bekanntschaft macht, dass er sich verletzt, einen Arzt benötigt und für die Versicherung einen Unfallbericht ausfüllen muss. Logischerweise sollten wir im 5. Segment nun etwas über die Verletzung vernehmen und je nach deren Ausmaß, könnten wir dem Verunfallten ein angemessenes Maß an Mitgefühl ausdrücken – obwohl er natürlich selbst an seinem Missgeschick schuld ist, denn Laternen zeichnen sich nun mal dadurch aus, dass sie am Weg stehen und nicht im Weg. Im Weg stand höchstens das Gläschen zu viel. Stattdessen werden wir informiert, dass es keinen Lichtausfall gab, der Unheil für andere Nachtschwärmer hätte herbeiführen können. Die Kluft zwischen dem Erwarteten und dem ganz und gar unlogischen Abschluss bringt eine komische Note in dieses Tanka. Wir haben es hier offensichtlich mit einer Stilblüte zu tun. Wie die Blüten auf einem Feld, so sind auch die Stilblüten vielfältig und in allen Kommunikationsbereichen beheimatet. Schadenmeldungen an Versicherungen scheinen besonders anfällig für komplizierte Formulierungen und zweideutige Wortwahlen zu sein, die manchmal selbst Tragödien in Komik kleiden.
Manche Blüte hat vielleicht auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Blumenstrauß, mit dem man hofft einen Fehler wieder gutzumachen. Der Unfallverursacher ist bestrebt seine Schuld zu mildern, indem er übereifrig die Formulare mit unnötigen Angaben bereichert.
Wer sich noch nie eine Webseite mit solchen Versicherungs-Stilblüten zu Gemüte geführt hat, sollte dies einmal nachholen. Abgesehen davon, dass sie eine erheiternde Lektüre bieten, zeigen sie uns auch wie leicht es ist, sich im Wort-Dschungel zu verlieren.
Im Französischen waren mir diese stilistischen Merkwürdigkeiten unter dem Namen "Perlen" bekannt. Beim Suchen nach der deutschen Bezeichnung fand ich unter den Blüten eine mir noch unbekannte Gattung, die "Kathederblüte" und den unbestrittenen Meister solcher Schöpfungen, nämlich Johann Georg August Galleti (1750-1828). Hunderte seiner Sprüche wurden schon 1866 in einer Gallettiana gesammelt. Mehr über ihn und einige Beispiele können sie auf der folgenden Webseite erfahren: http://www.galletti.de/index.htm

In der Westschweiz sind sich Journalisten, Politiker und andere Persönlichkeiten bewusst, dass ihre abstrusen Aussagen nicht so schnell vergessen gehen, denn es gibt dort für besonders gelungene Perlen sogar eine Auszeichnung. Jedes Jahr wird die kurioseste Aussage mit dem "Grand Prix du Maire de Champignac" prämiert. Wenn man weiß, dass der Maire de Champignac in der Comic-Serie Spirou und Fantasio vorkommt und eine satirische Zeitschrift diesen Preis ins Leben gerufen hat, dann kann man sich vorstellen, dass nicht jeder Preisträger sich über diese Ehre freut.
Gefreut hab ich mich jedenfalls über diesen witzigen Text.

Tony Böhle

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

Ich streichele sie
mit meinen Blicken, spreche
ihr Mut zu, Mut im
November – der einzigen
nicht erschlagenen Fliege

                – Reiner Bonack

Das Leben einer Fliege zu führen ist nicht besonders erstrebenswert. Kaum einer würde auch nur für einen Tag mit ihr tauschen wollen. Gehasst, gejagt, gefressen, erschlagen da ist es nur ein kleiner Trost, dass diese Insekten ein Gedächtnis von weniger als vier Sekunden haben und sich zumindest nicht lang an all die Grausamkeiten erinnern.
Gerade die Härten eines solchen Fliegenlebens sind es wohl, die verschiedenste Dichter wieder bewogen haben, diesen kleinen, oft verhassten Zeitgenossen eine paar Zeilen zu widmen. In einer solchen Existenz mag man wohl viele Züge des menschlichen Daseins wiederentdecken, besonders bei den Verlierern, Außenseitern und Abgehängten, sprich bei allen, die in der Hackordnung einer Gesellschaft weit unten stehen.
Eine solche Solidarisierung sehen wir auch in diesem Tanka. Das lyrische Ich fühlt sich von "der einzigen nicht erschlagenen Fliege" weder gestört noch zum Losschlagen animiert. Nein, es behandelt sie mit einer ungewohnten Art und Weise äußerst liebevoll und möchte sie wohl nicht das Schicksal ihrer übrigen Genossen teilen lassen. Dabei möchte sich der Leser wohl auch fragen, woher die Gewissheit kommt, dass es sich eben um die einzige nicht erschlagene Fliege handeln soll? Ist es einfach, weil das Erschlagenwerden hier als Schicksal der Fliegen angesehen wird oder hatte das lyrische Ich zuvor selbst seine Hand im Spiel und bekommt nun Skrupel? Wie soll man also einer Fliege "Mut" zusprechen, da die eben benannte Fliege dieses gerade nicht kann: sprechen!? Und auch ein Streicheln, wie man es von Katzen kennt, wäre wohl kaum möglich, da die Fliege entweder die Flucht ergreifen würde oder von dieser gut gemeinten Geste zerquetscht. Die Antwort wird prompt gegeben und lautet "mit meinen Blicken" so wie wir es wohl auch mit einem Menschen versuchen würden, mit dem wir weder sprechen, noch ihn berühren können.
Was es mit dem Zuspruch von Mut auf sich hat, ergibt sich gleichermaßen subtil wie kraftvoll formuliert aus dem Abschnitt "...spreche / ihr Mut zu, Mut im / November". Durch die zweimalige Nennung des Wortes "Mut" erfährt es eine besondere Betonung und gleichermaßen eine Steigerung von der allgemeinen Formulierung "Mut" hin zu "Mut im / November". Auch wenn die Fliege bisher allen Angriffen auf ihr Leben entkommen konnte, neigt sich ihr Leben mit dem Herbst wohl dem Ende zu. Der Zuspruch von "Mut im November" kommt damit dem Vertrauen auf das Unmögliche nahe.
Trotz aller Feinfühligkeit für die kleinsten Geschöpfe bleibt die Fliege am Ende doch nur eine Fliege und damit Projektionsfläche des lyrischen Ichs. Somit mag sich auch die Frage stellen, welche inneren Befindlichkeiten hier ursächlich für diese Solidarisierung sein mögen. Darüber lässt sich bestenfalls mutmaßen.

Valeria Barouch & Tony Böhle (Auswahl)

Die Tanka-Auswahl

Im Dämmer
im Rauschen
hinter der Ausfahrt sang lange
die Nachtigall uns
die Panne schön

                – Reiner Bonack

es drückt meine Wut
besser aus
als ich es je könnte
das Kreischen
der Kettensäge
               – Frank Dietrich

Gezügelt, artig
noch immer, als ginge ich
an Großmutters Hand

Ein kleiner Zirkus rollt an,
winken will ich – winke nicht

                – Reiner Bonack

unbeeindruckt
von den Jahren die uns
noch bleiben werden
der mächtige Nussbaum
den ein Fremder einst pflanzte

                – Eva Limbach

Ich streichele sie
mit meinen Blicken, spreche
ihr Mut zu, Mut im
November – der einzigen
nicht erschlagenen Fliege

                – Reiner Bonack

Zeiten ändern sich.
Statt großer Kinderaugen
lautes Gelächter.
Im Kaufhaus der Weihnachtsmann,
von Vierjährigem entlarvt.

                – Wolfgang Rödig

Noch grün die Eicheln
Jeden Tag ein paar mehr
auf dem Gehweg
Die Alte mit dem Rollator
stemmt sich gegen den Wind

                – Deborah Karl-Brandt

Blick zu den Sternen.
Künftige rote Riesen
und weiße Zwerge.
Fröstelnd allein im Dunkeln
zwischen Märchenerzählern.

                – Wolfgang Rödig

Analyse
einer Jugendfreundschaft
deine Ilexworte
stechen in das Ende
dieses Herbsttages

                – Ralf Bröker

betrunken
die Laterne im Weg
geht er zu Boden
im Unfallbericht vermerkt:
Ihr Leuchten ungebrochen!

                – Dyrk-Olaf Schreiber

mal wieder daheim
als stünde die Zeit still:
alles wie früher
nur das Rosenbeet vorm Haus
ist jetzt ein Parkplatz

                – Pitt Büerken

Der Himmel
senkt sich in deine Augen
buchstabiert
den Flügelschlag eines Moments
der hell auffliegt in mir

                – Angelica Seithe

Die Umrisslinien
eines Fraktals zerklüftet
wie ein Inselreich
zwischen Ordnung und Chaos
natürlich seine Grenze

                – Beate Conrad

Durch glühende Sonne
folge ich dir
Vor unsern Schritten
fließt
vom Stein die Schlange

                – Angelica Seithe

der gleiche Weg
wie damals – nur
ohne dich
die Trauerweide streift
meine Schulter

                – Frank Dietrich

Schatten fällt auf mich,
scheu wie die Erinnerung
an letzten Frühling,
als ich an einem Morgen
die Fensterläden auftat.

                – Wolfgang Stock

am Rheinufer
wo wir damals
du weißt schon
das Gras riecht
noch heute nach dir

                – Frank Dietrich

Blättergemurmel
trägt uns von nahen Waldrand
ein Luftzug heran.
Schau, eine Bank lädt uns ein,
sie heimlich zu belausche

                – Wolfgang Stock

ein Tropfen hängt
am Wasserhahn – wird länger –
fällt – und – zerspringt
so oder so ähnlich
zerrinnen meine Tage

                – Frank Dietrich

Frosch im Gartenteich
du bist doch nicht in Japan
wo man deine Stimme
für Gesang erachtet
bitte gönn’ mir meinen Schlaf

                – Erika Uhlmann

ein Mann peitscht
seinen Hund
mit der Leine

wenn er wüsste
wie weh mir das tut

                – Frank Dietrich

Beate Conrad
Gesichtskreise

Gibt es einen Gott?  Wie hat überhaupt alles begonnen?   Werden wir als Menschheit auf der Erde überleben?  Können wir tatsächlich die Zukunft für uns und die Erde gestalten?

 Sieht durch mich hindurch
 in eine andere Zeit
 der alte Lehrer

Was mag sich im Innern eines schwarzen Lochs befinden?  Gibt es im Universum intelligentes Leben?  Sollten wir das Weltall besiedeln?  Wird uns die Künstliche Intelligenz eines Tages überflügeln?

 Gebeugt und klein im Rollstuhl
 die Antwort auf die Frage

Horst Ludwig
Weisen

Es gab wohl auch Reiche in unserm Dorf, aber das waren sicher ganz wenige. Wir hatten drei Ziegen für Milch und Ziegenbutter, Hühner für Eier und hin und wieder das Huhn im Topf am Sonntag, paar Gänse, Kaninchen und einen kleinen Garten mit allem möglichen Gemüse. Manchmal sang die Mutter Lieder, vom schönsten Wiesengrunde und wie das Sichelein durch das Korn schlägt, aber etwas Besonderes war der Pater sonntags im Hochamt lateinisch und der Chor ohne Begleitung mit einer Strophe vom Schönsten Herrn Jesus.

 In den Wind gelehnt,
 schweren Schritts, mit Pausen auch,
 's Kirchbergl 'nauf
 mit Opapa am Gestell,
 ich, weil ich doch noch klein war.

 Das Regenwasser
 still in Buddhas Fußstapfen...
 bis ein Spatz draus trinkt.
 Da zittert's vielleicht etwas.
 Doch's könnt' einen auch täuschen.

 Die letzte Fähre
 im Nebel kaum zu sehen
 kommt tuckernd näher.
 Das Billet sicher zur Hand
 schulter ich leger den Sack.

 Zur blauen Stunde
 weither vager Glockenton,
 als Kind Gehörtes
 noch gut in Erinnerung
 und dünn erste Schneeflocken

Beate Conrad & Horst Ludwig
Tanka-Folge [ohne Titel]

Beate Conrad & Horst Ludwig
Tanka-Folge [ohne Titel]


 Der Fei goldnes Haar
 wie ihr Blick lang und schweigend
 und der Mond schön scheint
 zu duftender Frühlingsnacht
 zu schwer drängenden Knospen

 Blick, lang und schweigend
 aus der Müllkippe steigend
 dunkle Rauchsäulen,
 wo einst Bäche und Bäume
 den Göttern Oden rauschten.

 Und der Mond scheint schön
 überm St.-Godehard-Dom
 auf den Rosenstock,
 den 1000 Jahre alten,
 wieder neu gesprossenen.

 Frühling duftet nachts
 – und unser einer soll da
 den Leutenasen
 Fliedervariationen
 aufs Handy programmieren.

 Drängende Knospen
 Bit für Bit realisiert
 im Pixelgewand.
 Nach all der harten Arbeit
 kommt nun auch das Vergnügen.

 HL: 1, 3; BC: 2, 4, 5


 Da guckt solange
 in den Spiegel ein Leben
 bis ich's ihm glaube
 und spul zurück zur Stelle,
 wo's Glück noch lächelte.

 Spiegel ein Leben,
 Wort geordnet zum Wahren,
 eines Wesens mit ...
 Ja, mit wem oder was denn?
 Denn das ist doch die Frage.

 Bis ich's ihm glaube
 ohne Hand an seiner Seit', –
 wo's blind nicht einfach,
 auf den Gedankenpfaden
 eines andern zu wandern.

 Zurück zur Stelle,
 wo alles mal angefangen:
 Da war der Name,
 wie Mutter ihn und andres
 immer wieder lieb aussprach.

 Das Glück lächelte,
 alte Lieder erklangen.
 Große neigten sich,
 ums Händchen zu schütteln,
 sagten dem Kind,  wer's denn war.

 BC: 1, 3; HL: 2, 4, 5

Ingrid Kunschke
Dies ist nicht der Mond


 nicht der rote Mond, der Supermond
 oder der verfinsterte
 und gewiss nicht der blaue
 dies ist, wie ich vor Tagesanbruch
 am offenen Fenster
 steiffingrig mit Stativ
 und strammen Drehgriffen
 (welcher stellt was ein?)
 den Ausschnitt wählte
 nicht unter 1/125 und, ach:
 der Selbstauslöser
 aber wo

 o

 wo war nur der Mond
 gerade noch im Fokus
 lachte er: lass sein
 schau, ich verblasse und verschwinde
 wärm du deine Hände
 an einem Tee, damit,
 wenn du deinen Füller aufnimmst
 die Tinte fließen will in ein Gedicht
 – einmal löste ich noch aus:
 eine Studie dessen, wie ich war
 in jenem Augenblick
 dieser Schmerz, nicht loszulassen


 im Füller
 Asagao-Blau
 warum nicht
 zwei, drei Tropfen
 erblühen sehen

Gabriele Hartmann
Stimmbruch (Tanbun-Sequenz)

Die fremde Stadt kennt keine Gnade. Noch vor dem Weckruf kreischt die Straßenbahn ihr Lied ins Schienennetz.

 an diesem Morgen
 denkt er erstmals nicht an mich
 – da bin ich sicher –
 und deckt den Frühstückstisch
 dann doch für zwei Personen

Was nicht verbrennt wird abgeholzt. In fetten Lettern verordnen sie der Welt unbesehen zu vertrauen.

 den weißen Belag
 hab ich gründlich abgewischt
 von den Trauben
 doch seine Zunge vermag ich
 heute nicht zu lösen

Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald. Um ihre Kindheit gebracht skandieren sie nun freitags für ihre Zukunft.

 mit Jutebeuteln
 checken wir ein
 verstimmt
 denn auf dem Markusplatz
 wurden Tauben vergiftet

Wettbewerbe, Termine und Veranstaltungen

The British Haiku and Tanka Awards
In den Kategorien Tanka, Haiku und Haibun schreibt die British Haiku Society (BHS) einen Wettbewerb aus, zu dem noch bis zum 31. Januar 2020 Beiträge in beliebiger Zahl eingereicht werden können. Für die Beiträge, die in englischer Sprache eingereicht werden müssen, wird eine kleine Teilnahmegebühr erhoben. Der Wettbewerb steht sowohl Mitgliedern wie auch Nichtmitgliedern der BHS offen. Die Gewinner erwarten Geldpreise. Die Einzelheiten zur Ausschreibung und die Teilnahmebedingungen finden sich auf der Webseite der BHS: http://britishhaikusociety.org.uk/category/competitions/

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 15. Februar 2020. Der Einsendeschluss ist der 31. Dezember 2019. Für die Einsendung von Beiträgen bitte ich, die Teilnahmebedingungen zu beachten.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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