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Ausgabe Nr. 4 Februar 2014
Für die Februar-Ausgabe von Einunddreißig habe ich aus den Einsendungen eine Auswahl von 23 Tanka getroffen und zwei meiner eigenen Texte beigestellt. Ein Tanka, das mich besonders angesprochen hat, habe ich hervorgehoben und kommentiert. Als Sonderbeiträge erscheinen ein Foto-Tanka von Horst Ludwig und Beate Conrad, die Tanka-Prosastücke "Fahrkarte" von Ralf Bröker und "Gang ins Freie" von Beate Conrad sowie die Tanka-Sequenz "bewölkte Tage" von Ingrid Kunschke.
Editorial
Es ist nun fast genau ein Jahr vergangen, seit sich die Ideen zu Einunddreißig langsam konkretisierten und die Vorbereitung zur ersten Ausgabe begannen. Obwohl ich anfangs selbst etwas skeptisch war, ob sich das Projekt dauerhaft etablieren würde, haben sich meine Erwartungen bisher mehr als erfüllt. Nicht nur das Tanka selbst, sondern auch Tanka-Sequenzen, Tanka-Prosa und Foto-Tanka erfreuen sich mittlerweile einiger Beliebtheit. Der gegenwärtige Stand lässt sich vielleicht durch einen Blick auf die Statistik näher beschreiben.
Das durchschnittliche Tanka, so wie es sich in Einunddreißig präsentiert, wird kurz vor dem Einsendeschluss eingereicht, ist weiblich, in der freien Form geschrieben und besteht aus 27 Silben. Davon verteilen sich 4 auf das erste, 6 auf das zweite, 5 auf das dritte und jeweils 6 auf das vierte und fünfte Segment. Was verrät diese kleine Statistik über nun? Nichts. Das durchschnittliche Tanka, so wie es sich in Einunddreißig präsentiert gibt es nicht – zum Glück! Sollte so ein durchschnittliches Tanka doch bestenfalls durchschnittlich sein. Stattdessen hat sich eine bunte Tanka-Landschaft herausgebildet, in der sich beide Geschlechter rege hervortun. Die bekannten einunddreißig Silben tummeln sich neben dem kurz-lang-kurz-lang-lang-Schema und freien Formen. Doch eines scheint auch über Kulturen und Epochen hinweg unverändert geblieben zu sein: Liebe, Natur und die Vergänglichkeit aller Dinge sind noch immer die zentralen Themen.
Auch wenn das deutschsprachige Tanka inzwischen schon ein gutes Stück aus seinen Kinderschuhen herausgewachsen ist, steht es noch am Anfang seiner Entwicklung. Was dem Tanka fehlt, ist vor allem Resonanz in Form gelegentlicher Kritik, einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der Materie und dem Werk der Tanka-Autoren. Auch dies ist ein wesentlicher Bestandteil des Erfolgs. Ich würde mir wünschen, dass das Tanka eines Tages auch im deutschsprachigen Raum seinen gleichrangigen Platz neben dem Haiku einnehmen wird, den es auch zweifelsohne verdient hat. Auch dazu soll Einunddreißig einen kleinen Beitrag leisten, dessen neuste Ausgabe jetzt online steht.
– Tony Böhle
Sonderbeiträge
bewölkte Tage – eine Tanka-Sequenz von Ingrid Kunschke
Fahrkarte – Tanka-Prosa von Ralf Bröker
Ein Tanka, das mich besonders anspricht
Schlaflose Nächte –
selbst wenn sie zu Perlen würden
könnt ich mich ihrer
des Tages nicht erfreuen,
so schwer wär das Geschmeide.
– Valeria Barouch
Schlaflosigkeit ist ein Phänomen, das uns allen bekannt sein sollte. Bedenkt man, dass es von New York heißt, es sei die Stadt, die niemals schlafe, scheint sie auch ein Symptom unserer beschleunigten Zeit zu sein. Gleich welche Ursache der fehlende Schlaf auch immer haben mag – ob Sorgen, Stress, Lärm oder auch positive Dinge wie eine frische Liebe, durchwachte Nächte hinterlassen Spuren an uns. Und genau diese sind es, die Valeria Barouch hier thematisiert.
Das Bild schlafloser Nächte, die sich aneinanderreihen, wie Perlen in einer Kette gewinnt seine Stärke auch aus der Vorstellung, dass eben diese Nächte dem Lyrischen Ich hier genau so einförmig, ja ununterscheidbar erscheinen mögen, wie perfekte Zuchtperlen. Die große Zahl der durchwachten Nächte manifestiert sich hier im Gewicht des in der Vorstellung geschmiedeten Geschmeides. Auch dieses Bild ist treffend gewählt, denn jeder von uns weiß wohl, wie schwer fehlender Schlaf an uns lastet, wie schwer Arme, Beine und der Kopf sich anfühlen und wie jede Bewegung wirkt, als hinge Blei an uns.
Orientiert man sich am traditionellen Schema von 5-7-5-7-7 Moren (oder in der Übertragung Silben), sticht die Überlänge (ji-amari) des zweiten Segments mit acht Silben ins Auge. Solch eine Abweichung tritt auch in einigen Waka der Sechsunddreißig Unsterblichen der Dichtkunst (Sanjūrokkasen) auf und musste selbst nach klassischen Vorstellungen der Schönheit eines Textes keinen Abbruch leisten. Stilistisch kann dieses Werkzeug benutzt werden, um eine größere Betonung auf ein Segment zu legen. Hier wird die erregende Spannung der Aussage "selbst wenn sie zu Perlen würden" betont und gleichzeitig noch in größere Realitätsferne gerückt. Sowohl die Leichtigkeit als auch die klassische Eleganz der Sprache erinnern mich an die Waka von Ono no Komachi (ca. 825 – ca. 900). Valeria Barouchs Motivwahl der Perlenkette lässt mich zugleich an das bekannte Waka "Auf das herbstliche Feld / legen sich weiß die Tautropfen. / Sind es wohl Perlen, / zu einer Kette gereiht / am Faden des Spinnennetzes?" von Fun’ya no Asayasu denken. Bestehen hier auch Anklänge zu japanischen Klassikern, ist dieses Tanka doch weit davon entfernt deren blutleere Nachahmung zu sein, reicht das vermittelte Bild in seiner Abstraktion, eine schlaflose Nacht an einer Kette aufzufädeln, doch weit über das Aufreihen von Tautropfen hinaus. Schlaflosigkeit wie ein glänzendes Schmuckstück an sich zu tragen, kommt hier nicht von ungefähr – sind es doch ebenso dunkle Augenringe, die oft nach durchwachten Nächten sichtbar für alle unser Gesicht zieren. Auch dies ein Geschmeide, das uns nicht erfreut!
Tanka-Auswahl Februar 2014
Ach, Lespedeza,
von rätselhafter Schönheit
träumte ich beim Klang
deines Namens. Nun weiss ich
du heisst einfach nur – Buschklee.
– Valeria Barouch
über die zimmerdecke
wandert scheinwerferlicht
die nacht klopft
die nacht klopft wieder...
im gespräch mit dem stillen zimmer
– Ruth Guggenmos-Walter
Schlaflose Nächte –
selbst wenn sie zu Perlen würden
könnt ich mich ihrer
des Tages nicht erfreuen,
so schwer wär das Geschmeide.
– Valeria Barouch
Wie hoch
auch der Schnee lag
vor dem Haus
unserer Kindheit
Vater bahnte den Weg
– Ilse Jacobsen
Ein Riss in der Wand
hinter unserem Bett.
Ein neuer Ozean
hat begonnen sich zu öffnen
zwischen dir und mir.
– Tony Böhle
der Schmetterling
erfroren am Fenster
ganz unversehrt
sehe ich die Wiese
im letzten Sommer
– Silvia Kempen
Das frisch gepellte
Ei zwischen deinen Fingern:
als du hineinbeißt
scheint es einen Augenblick,
als küsstest du ein Baby.
– Tony Böhle
einsam
unter Menschen
allein
die Spinne in der Ecke
seilt sich zu mir herab
– Silvia Kempen
vor dem fenster rauchend
denke ich an meine kindheit
ein käfer verirrt sich in
meinen aschenbecher
ich drücke seine punkte aus
– Gerald Böhnel
das feuerwerk
verglüht
über der menschenmenge
was war, was ist
meine hand in deiner
– Ramona Linke
Endlich
ein Brief
vom Jungen
Sie liest
das Ungesagte
– Reiner Bonack
Verschiedene Welt
hinter jedem Gesichtskreis
erregend bewegt, –
und im Schein eines Geistes
einstimmendes Beseelen.
– Horst Ludwig
Momentlang
fällt Sonnenlicht
durch die Scheiben
des Museums bis
in die Steinzeit
– Reiner Bonack
Die Gartenstühle
übereinander gestellt.
Nebel kriecht heran...
Im Rasenschach konserviert
eine finale Stellung.
– Conrad Miesen
Eine Kerze anzünden
Den Kopf wieder heben
In den Nischen
schimmert der Staub
so vieler Gebete
– Reiner Bonack
In ein Buch vertieft
mit brennenden Augen nachts...
Am andern Morgen
der schwere Kopf auf dem Tisch
und Seiten – absolut leer!
– Conrad Miesen
im kopf des pendlers
gießen die synapsen blei
ins karussell...ssell
lacht ein kind die mutter an
von halt zu halt noch lauter
– Ralf Bröker
Jahrestag –
im zerknautschten Kissen
ein letzter Herzschlag
immer noch
das Gefühl von Winter
– Andrea Naß
komm, mutter
ich begleite dich über
diese stufe
wieder kommt ihr in den sinn
ihre seele spannte weit
– Ralf Bröker
Aus schrumpligem
Gesicht lächelnd
zwei blanke Augen
Im Murmelglanz der Pupillen
spiegelt sich – ein Mensch
– Angelica Seithe
Kalte Windstöße.
Durch die Kirchenruine
irrlichtert ein Schnee.
Doch wer braucht schon Beweise
für transzendente Wesen.
– Beate Conrad
Septembersonne
im Gefängnis
Tag der offnen Tür
auch in meinem
wird es hell
– Angelica Seithe
Rot reift die Sonne
aus einer Abgasglocke,
ja, als hätte sie
ein Schmetterling geküßt – so
scheint sie überm Hochhausmeer.
– Beate Conrad
Erwachen
Manchmal schellt das Telefon
im Traum –
Und ich erwache
in diese Stille
– Angelica Seithe
manchmal sehe ich
wie du an deinem Ring drehst
und ich frage mich, was wäre
hättest du damals
Nein gesagt
– Heike Gericke
bewölkte Tage
ins neue Heim
trage ich meine Bücher,
die Kräuter,
und auch diesen Krebs,
der meinen Kopf befällt
unterm
Abdecktuch im OP
ist das Leben
grün und fern, unsagbar
grün, aber trotzdem fern
ein kappa*
dessen sara versiegt ist
bin ich das
mit verbeultem Kopf,
so ganz ohne Saft und Kraft?
suchen Sie sich
ein schickes Käppi…
ich höre wohl
diesen Zweifel, dass Schick
und Schutz zusammengehen
als träfe
die ganze Glut
des Sommers
geballt auf meinen Kopf,
so schwanke ich ins Haus
ein Auf und Ab,
aber heut klink ich mich aus,
aus dem Schmerz,
sitze einfach nur da
bis ich nicht mehr schwitze
ein Martinshorn,
dieses Knacken in der Wand
und das Signal
zum Ende der Schicht:
auch so vergeht ein Tag
vom Mädchen
zur Freundin und schließlich
zur Frau
und Mutter; nun mit den
Narben alter Männer
irgendwann bald
der erwartete Anruf
und dann
werden wir ja sehen,
dann werden wir sehen
die Spinnen
in diesem alten Haus,
ich scheuche
sie fort, und mit ihnen
die Gedanken der Nacht
ach so…
höre ich mich sagen
wiederholt
bedauert der Arzt
den zu knappen Schnitt
die Wäsche
soll endlich trocknen,
die Tonne
sich mit Regen füllen;
manchmal ist’s schwer mit mir
befragt nach
Arbeit und Hobbys
spreche ich
vom Schreiben, damit er
endlich schneidet, der Arzt
sie kennen keine
kappa und wittern doch Gefahr,
diese Leute,
mit einem Blick auf meine
Wunde weichen sie zurück
beim Lachen
hält man sich besser fest
den Kopf –
das weiß ich ja schon und
lache über jeden Mist
nicht bücken
und nicht in die Sonne –
also geh ich
nicht in die Sonne
und auch nicht gebückt
die ich säte,
die Sommerblumen,
schau ich mir an:
jeden frühen Morgen
und im späten Abendlicht
ah, der Luxus
bewölkter Tage!
mit einem Mal
sind beide Straßenseiten
gleichermaßen begehbar
man möchte ja
nicht gern rasieren
murmelt er
und schaut drein als wolle er
ihn jetzt rasieren, meinen Kopf
Kopf, mein Kopf
welcher Puppenspieler
schnitt dich
mit welcher Schere
so von deinem Faden?
wie gut,
dass du so klein bist,
Mutter,
so musst du nicht sehen
wie mein Kopf zusammenhält
einmal im Monat
nachsehen, ob der Krebs
sich zeigt –
aber ich will nicht, dass er
mich so ansieht, mein Mann
wie wär’s denn
mit einer Perücke?
ja, wie wäre das?
ich find in meinem Herzen
ein Cape aus dunkelster Nacht
schlaflos lausche ich
Takubokus* Stimme und
die der Ise* –
ja doch, ja, bald bekommt
ihr einen Platz im Regal
tief in mir
wächst ein fester Entschluss:
ab jetzt lache ich
alle Leute an, ehe
sie wegsehen können
längst bekannt
als die Frau mit der Mütze,
wähle ich heute
eine weiße mit Krempe
und mache auf Tourist
ob ich ihr
nun mit oder ohne
Narben
lausche, der Amsel,
schätz ich, ist es einerlei
– Ingrid Kunschke
Fußnoten:
(1) kappa — ein japanisches Fabelwesen
(2) Ishikawa Takuboku (1886-1912), war ein japanischer Dichter, Tankaist und Literaturkritiker der Meiji-Zeit
(3) Ise (Die Hofdame Ise, um 875 - 938), war eine japanische Dichterin und Konkubine. Sie ist eine der 36 Unsterblichen der Dichtkunst
Fahrkarte
Die Frau am Ticketautomat wird hektisch. "Gib mal dein Portemonnaie", sagt sie zu dem kleinen Mädchen. "Das habe ich nicht dabei." "Ach, Paula, ich habe dir doch gesagt, du sollst es mitnehmen! Jetzt haben wir nicht genug Geld für die Fahrkarte." Beide setzen sich. Dann lächelt die Kleine: "Es tut mir Leid, Mama."
eine truppe lacht
die letzte kegeltour
durch den zug
näher kommt das klappern
der abfallbehälter
– Ralf Bröker
Gang ins Freie
Ein Tisch, ein Stuhl. Er brauche den Raum nicht zu verlassen. Stattdessen sitze er und schließe seine Augen. Doch eigentlich sei nicht einmal das erforderlich. Nur Warten und Ruhigsein. Ganz für sich.
Allein anvertraut
wär er seinem Erstaunen,
einem entfernten
Raum weiter als der Himmel
und voller Schmetterlinge.
Folg er ihrem Licht
an den Rand eines Globus'
einzigartig und
beschützt von einer Decke
hauchbewegter Luftschichten.
Doch wer hätte dann das leichte Quietschen der Zellentür gehört, das einem Fortgegangenen für eine Stunde den Gang ins Freie erlaubt.
– Beate Conrad
nächste Ausgabe
Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 01. Mai 2014. Anders als gewohnt, ist der Einsendeschluss diesmal bereits der 01. April 2014. Grund für diese Änderung ist, wie schon in der Sparte "Nachrichten" berichtet, eine Zusammenarbeit mit Sommergras, der Vierteljahreszeitschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft (DHG). Dabei werden zukünftig durch eine Jury der DHG Tanka aus der jeweils aktuellen Ausgabe von Einunddreißig ausgewählt und in der Sparte "Haiku und Tanka aus dem Internet" in Sommergras veröffentlicht. Um Kollisionen zwischen den Einsende- und Redaktionsschlüssen beider Zeitschriften zu vermeiden und auch weiterhin die Auswahl der Texte mit der angemessenen Sorgfalt durchführen zu können, ist somit eine Vorverlegung des Einsendeschlusses unumgänglich. Ich bitte dies zu beachten. Zukünftig wird jeweils der jeweils erste Tag der Monate Januar, April, Juli und Oktober Einsendeschluss für die folgende Ausgabe von Einunddreißig sein.