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Ausgabe Nr. 1 Mai 2013
Für die erste Ausgabe von Einunddreißig habe ich aus den Einsendungen eine Auswahl von 24 Tanka getroffen und zwei meiner eigenen Texte beigestellt. Ein Tanka, das mich besonders angesprochen hat, habe ich hervorgehoben und kommentiert. Als Sonderbeitrag erscheinen zwei Foto-Tanka von Helga Stania und Roland Stania.
Editorial
Ja, es ist tatsächlich soweit – die erste Ausgabe von Einunddreißig steht online! Und mit dem Erscheinen ist auch eine große Last von mir gefallen.
Es ist schon eine Weile her, dass ich mir zum ersten Mal die Frage gestellt habe, warum es noch kein deutschsprachiges Magazin mit dem Schwerpunkt Tanka gibt. Zwar erschienen regelmäßig ein paar Texte in den Autorenauswahlen von Sommergras und Chrysanthemum, aber auch hier stellten die Haiku die große Mehrheit der Texte dar. Dagegen waren im englischsprachigen Raum bereits zahlreiche Zeitschriften, Blogs und Foren auf das Tanka spezialisiert und auch eine ganze Zahl von Autoren (Sanford Goldstein und Michael McClintock sind vielleicht die bekanntesten) hatte ihren Schwerpunkt auf dieses Form des japanischen Kurzgedichts gelegt. Auch was die Zahl an Publikationen in Buchform angeht, sieht es im deutschsprachigen Raum eher düster aus. Dem modernen Tanka wird wenig Raum eingeräumt, so dass nur die (wirklich hervorragende) Anthologie "Gäbe es keine Kirschblüten…" und die Sammlung "Trauriges Spielzeug" mit Texten von Ishikawa Takuboku erwähnenswert sind. Natürlich erreicht man mit englischsprachigen Publikationen eine größere Zahl an Lesern, aber ist das der einzige Grund, warum das Tanka hierzulande noch in den Kinderschuhen steckt? Vielleicht besteht ein gewisses Desinteresse oder auch etwas Unsicherheit im Umgang mit dieser Gedichtform, gerade weil es bis jetzt nur wenige Möglichkeiten gibt, eigene Texte zu veröffentlichen und die heute sehr freie Definition des Haiku das Tanka auch überflüssig erscheinen lässt. Wer sich jedoch etwas eingehender mit dieser Form beschäftigt, wird schnell feststellen, dass das Tanka einen ganz eigenen Charakter besitzt und auch eingefleischten Haiku-Autoren neue Ausdrucksmöglichkeiten bietet.
Ich muss zugeben, dass ich anfangs einige Befürchtungen hatte, das Projekt könnte scheitern bevor es richtig begonnen hat. Neben den üblichen Problemen wie der Gestaltung der Webseite, mit der ich mich einige Zeit herumgeschlagen habe, war es vor allem schwierig die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen. Obwohl mich die DHG, Volker Friebel und Ramona Linke tatkräftig dabei unterstützt haben, kamen die Einsendungen zunächst nur schleppend in Gang. Glücklicherweise sind es am Ende doch noch einige Texte geworden, aus denen eine, wie ich glaube, recht ansehnliche Auswahl zu Stande gekommen ist.
Neben viel Zuspruch für das Projekt habe ich auch von einigen Autoren gehört, dass sie die Gelegenheit genutzt haben, sich zum ersten Mal etwas genauer mit dem Tanka zu beschäftigen. Aber auch für mich war es ein Sprung ins kalte Wasser, denn zum ersten Mal wechsle ich die Seite vom Einsender zum Auswähler. Die meisten werden es kennen: der gespannte Blick in die neuesten Autorenauswahlen gefolgt von Frust und Enttäuschung. Entweder man hat es nicht in die Auswahl geschafft oder gerade die Texte sind nicht dabei, die man selbst für die besten gehalten hätte. Dann kommen die Fragen, warum es welcher Text nicht geschafft hat, was falsch war oder ob es nur am schlechten Geschmack der Jury lag… Nun kann ich aus meiner ersten Erfahrung heraus sagen, dass es auf der anderen Seite auch nicht einfach ist. Schließlich will aus einer größeren Zahl an Texten mit verschiedenen Themen, Stilen und Vorstellungen von dem, was ein gelungenes Tanka ausmacht, eine repräsentative Auswahl getroffen werden. Deshalb habe ich mir die Entscheidung auch nicht leicht gemacht, Texte nach Tagen und Wochen immer wieder gelesen, gegeneinander abgewogen und versucht den eigenen Geschmack außen vor zu lassen. Ich hoffe, dass dies gelungen ist und die getroffene Auswahl auch weitgehend die Zustimmung der Autoren finden wird. Ich bitte auch in Zukunft auf eine rege Beteiligung und viele Einsendungen damit noch viele Ausgaben von Einunddreißig folgen können.
– Tony Böhle
Sonderbeiträge
Bauerngarten – ein Foto-Tanka von Helga Stania
blinde Frau – ein Foto-Tanka von Helga Stania und Roland Stania
Ein Tanka, das mich besonders anspricht
Ticken
kein Läuten
Schicht um Schicht wächst
der graue Grund
des Aschenbechers
– Reiner Bonack
Kürzlich habe ich in einem Interview gelesen, dass ein gutes Tanka keine Kurzgeschichte sein soll, nicht ihr Anfang, nicht ihr Ende, sondern ihre Mitte. Auf den hier vorliegenden Text trifft dies meiner Meinung nach ganz besonders zu. Stille im Raum, nur das Ticken der Uhr ist zu hören. Ungeduldig, angespannt, nervös das Warten auf das erlösende Läuten. Vielleicht ein Anruf von der Tochter, dass sie gut zu Hause angekommen ist? Vielleicht das Warten auf ein Läuten an der Tür? Die Post, die eine wichtige Lieferung bringen soll, der lang angekündigte Besuch oder sogar der Gerichtsvollzieher? Das Warum und Worauf bleibt unbekannt und lässt uns nur Vermutungen anstellen. Dabei scheint sich diese Situation schon eine ganze Weile hin zu ziehen, denn Zigarette um Zigarette geht in Rauch auf und lagert sich auf dem Boden des Aschenbechers ab. Das Wachsen der Asche „Schicht um Schicht“ erinnert mich hier schon fast an einen geologischen Prozess und vermittelt dem Leser, wie unendlich langsam die Zeit zu vergehen scheint, während man die Luft vor Spannung und Rauch fast schneiden kann. Einen kleinen Hinweis finden wir am Ende vielleicht doch im „grauen Grund“ des Aschenbechers oder anders gelesen im „grauen Grund“ für den Aschenbecher, der wächst und wächst…
Tanka-Auswahl Mai 2013
ihr Knospen, schaut nur
wie die Herbstblätter faulen
unter dem Wasserspiegel
die Fantome von Tagen,
verflossen und nahend
– Valeria Barouch
Zur Tagesneige
fliegt ein Spatz über den Fluss
nahe der Brücke.
Ich stehe am Ufer und
sehe auf in den Himmel
– Horst-Oliver Buchholz
Die alten Eichen
stehen heute am Weg
wie Himmelswurzeln
Erde an Wolken kettend
und Schwermut an die Sinne
– Valeria Barouch
nun wieder vereint:
die bröckelnde Mauer
und der Efeu
versteckt unsere Losung
aus der stürmischen Zeit
– Heike Gericke
Das Gesicht
dem Regen preisgegeben
meine Stimmung
wie eine darbende Blume
empfängt der Tropfen Küsse
– Valeria Barouch
die frischgeschnittenen
haare der buben
im wind…
nehmen die vögel und
polstern damit ihre nester
– Ruth Guggenmos-Walter
über das Meer
streift mein Blick weit weit
nach Westen...
werden wir uns wiedersehen
dort im Land Sukhavati?
– Tony Böhle
immer
auf der suche…
nach wasser
bis ans ende der wüste
wandern meine gedanken
– Ruth Guggenmos-Walter
Apfelblühten
Stück für Stück davongetragen
im Wind
ich denke an Großmutter
die meinen Namen vergaß
– Tony Böhle
antikes theater –
die steilen stufen hinab
kullert mein apfel…
von unten, tief unten
die fremden stimmen
– Ruth Guggenmos-Walter
Ticken
kein Läuten
Schicht um Schicht wächst
der graue Grund
des Aschenbechers
– Reiner Bonack
kalte felswüste
wasserblauer dunst schwebt
über rotem sand…
an mir
leckt das abendlicht
– Ruth Guggenmos-Walter
Der Uferwald
nimmt die Boote zurück
der nasse Meerwind
den Geruch der Netze
das Dorf – die Fischer
– Reiner Bonack
nach dem Nebel
droben in den Lärchen
ein Wolkennest
es war der Anfang
eines langen Sommers
– Ilse Jacobsen
Unter den Flügeln
der Klang
des splitternden Mondes
Ein blaues Wölkchen treibt
vom Hochstand zum See
– Reiner Bonack
zum Anlehnen
die knorrige Kiefer
lud mich ein
wir beide windschief
halten einander
– Ilse Jacobsen
vor der Kneipentür
das Knacken der Finger
in meinem Rücken
die Straße entlang
das helle Mondlicht
– Gerd Börner
der Tagmond
über den Halden scheint heute
aus Seidenpapier
und mir ist als summt er ein Lied
... Kinderzeit lange her
– Ramona Linke
So nah deine Lippen
dort, wo das Foto fehlt
mein Schweigen
kreist im Innenrot
der Teeschale
– Gerd Börner
Wintereinsamkeit…
gefangen von der Tiefe
des Sternenhimmels
schlummert ein Wiegenlied
in meinem Traum
– Ramona Linke
scanne ein
dein großes Lachen
lange her
sagst du und lächelst
beim sanften Blättern
– Ralf Bröker
Über die Weite
der Wildblumenwiese
im frühen Licht
wehen Amsellieder – so schön,
dass ich mich sehne, nach daheim
– Ramona Linke
entlang
deines Kometenschweifs
führst du mich
diese geisterhafte
Fernwirkung überall
– Ralf Bröker
schwarzperlige Nacht...
auf dem Spielplatzkarussel
unser leises Gekicher
verzittert und zerrieselt
über dem Meer
– Ramona Linke
mit offenem Mund
sitzt er vor dem Monitor
ein Blauwal schwimmt
auf der Seite, filtert
den Krill aus dem Strom
– Ralf Bröker
Die Tauben weiden –
Friede müßte sein
in den Köpfen und Herzen…
Dann könnten neben Tauben
auch die Menschen weilen
– Hannelore Schütze
nächste Ausgabe
Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 01. August 2013. Der Einsendeschluss ist der 15. Juli 2013.